Die Medien auf der digitalen Grossbaustelle
Bei der technologischen Innovation, ganz besonders in der Werbung, aber auch bei der Distribution der Inhalte, kommt niemand an den global führenden Digitalunternehmen vorbei. Unternehmen wie Google, Apple und Facebook dominieren auch die Entwicklung in der Schweizer Medienbranche. Dennoch bleibt Spielraum für unabhängige Lösungen.
Ein mehrfach gefalzter, kompakter brauner Pappkarton, der sich zu einer Schachtel aufklappen lässt, die am Ende ein bisschen so aussieht wie eine Taucherbrille. Darin eine Aussparung für die Platzierung eines Smartphones, dessen Display zum Okular hin ausgerichtet wird – so einfach geht der erste Schritt in die virtuelle Realität.
Die Zukunft sieht heute genauso unspektakulär und bruchstückhaft aus. So, wie wir es im Rückblick auch von früheren Innovationen kennen: Der Blick auf den ersten Web-Browser von Tim Berners-Lee elektrisierte 1993 auch nur wenige, weil sich damals kaum jemand vorstellen konnte, wie das World Wide Web zum Allgemeingut werden sollte. In zwanzig Jahren wird man halb staunend, halb irritiert auf die «Cardboard-Brille» zurückschauen und darin vermutlich einen Meilenstein auf dem Weg in die Medienzukunft erkennen. Seit die New York Times die Kartonbrille millionenfach ihren Zeitungsabonnenten mitgeliefert hat, glaubt man an das Momentum. Das Magazin „Wired“ nennt die Verteilaktion „VR’s big mainstream moment“, der grosse Moment, wenn sich die Anwendung einer neuen Technologie mehrheitsfähig etabliert. So weit ist es noch nicht. Aber es ist absehbar, dass dank digitaler Innovation Geschichten in einer neuen Form präsentiert werden können. Journalismus wird erlebbar.
Das wirft gleichzeitig Fragen auf nach der Integrität des Storytellings. Heute sieht es ganz danach aus, als würden die Giganten der aktuellen und letzten Generation der Medienwirtschaft auch hier den Ton angeben. Facebook, Walt Disney und Sony heissen die Platzhirsche. Am deutlichsten zeigt sich dies bei der Werbung. Einst brachte sie den Zeitungen einen vermeintlich nimmer versiegenden Geldstrom. Heute kämpfen sich die Verlage mit viel Geld und teuren Akquisitionen zurück in die digitale Arena. Aber Google bleibt unerreichbar. Schon jeder zweite digitale Werbefranken fliesst zum Medien- und Werbekoloss nach Kalifornien. Denn während sich die Verlage an das einträgliche Zeitungsgeschäft klammerten, entwickelten die angehenden Giganten ihre Geschäftsmodelle für die digitalen Plattformen. Als dann die Medienhäuser bei der Werbung ins Netz aufgeschlossen hatten, folgte mit der massenhaften Verbreitung der Smartphones gleich der nächste Umbruch. Und auch hier haben Konzerne wie Facebook, Google und Apple die Nase vorn. Sie stellen die Geräte her (Apple), kontrollieren das Betriebssystem (Google) und verfügen über die weltweit grösste Medienplattform (Facebook).
Daher verwundert es nicht, dass Medienunternehmen ihre Innovationsschritte immer im Licht der Aktivitäten der drei Giganten betrachten müssen; das Dreigestirn überstrahlt alles. Ob Werbung, Inhaltsdistribution, Storytelling – alles erfolgt unter Berücksichtigung der gegebenen Rahmenbedingungen. Auch in der medienpolitischen Debatte sind Apple, Google, Facebook präsent und helfen Entwicklungen anzustossen, zumeist indirekt als Reaktion auf ein Fait accompli eines der drei Dominatoren. Die angekündigten Werbeallianz von SRG, Swisscom und Ringier steht auch ganz im Zeichen solcher Überlegungen. Argumentativ setzten die drei Unternehmen auf das David-gegen-Goliath-Argument: die kleinen Schweizer Medien müssten zusammenhalten, um wenigstens im Heimmarkt gegen Google & Co. bestehen zu können. Dieser Sichtweise folgen nicht alle. Insbesondere Tamedia bekämpft die Allianz und hält die Underdog-Solidarität für vorgeschoben.
Tamedia tat sich in der Vergangenheit hervor mit Akquisitionen und dem Aufbau eines starken digitalen Standbeins. Mit dem publizistischen Geschäft haben diese aber nichts zu tun. Anders als früher, als die Rubrikeninserate direkt an die Zeitung gekoppelt waren, laufen die Geschäfte im Digitalen getrennt. Mit „20 Minuten“ und 20min.ch verfügt Tamedia über die dominante Medienmarke in Print, Online, Mobile und absorbiert so einen Grossteil des Marktpotenzials. „The winner takes it all“: Neben dem Platzhirsch 20 Minuten im Gratiszeitungsmarkt tut sich selbst der gut etablierte Blick am Abend von Ringier schwer im Geschäft. Und Watson? Das von AZ-Medien-Verleger Peter Wanner finanzierte Start-up, ist mit dem Ziel angetreten, 20min.ch herauszufordern. Publizistisch mag Watson zwar immer wieder von sich reden machen, aber kommerziell bringt das nicht genug Geld ein. Vorerst verbraucht Watson noch viel mehr Mittel als die Werbung einbringt.
Das Abonnementsmodell fristet im Digitalen weiterhin ein Nischendasein. Neben der NZZ, die immerhin zwölf Prozent ihrer täglich verkauften Auflage als E-Paper ausliefert, kann kein anderer Verlag auch nur ansatzweise vergleichbare Zahlen vorweisen. Immerhin lässt sich ein beständiges Wachstum auf tiefem Niveau feststellen. Dazu tragen auch die Bezahlschranken bei, die nur noch eine bestimmte Anzahl Artikel zur freien Lektüre anbieten und danach zur Kasse bitten.
Auch die gebührenfinanzierte SRG kann sich der Marktdynamik nicht entziehen. Im TV-Geschäft muss sie zusehen, wie Millionen von Werbefranken zu ausländischen Privatsendern abfliessen. Die hybride Finanzierung aus Nutzergebühren und Werbeeinnahmen erweist sich unter den aktuellen Vorzeichen als Nachteil. Im Normalbetrieb dient die Doppelstrategie einer breiten Abstützung, doch gegenwärtig werden beide Geldquellen prominent in Frage gestellt. Und in beiden Fällen werden die Errungenschaften der Digitalisierung als Argumente gegen die SRG in Stellung gefahren. Die radikalen Gebührenabschaffer von „No Billag“ sehen ein ausreichend grosses und vielfältiges Medienangebot auf allen digitalen Kanälen, sodass es keine von der Allgemeinheit finanzierten Programme mehr brauche. Im zweiten Fall will man der SRG die Expansion ins digitale Werbegeschäft verwehren. Federführend wirkt hier Tamedia und ihr Präsident Pietro Supino, der einem kompletten Werbeverbot für die SRG das Wort redet.
In diesem von Unwägbarkeiten und Unsicherheit geprägten Klima hat die Publizistik keinen einfachen Stand. Die Evolution des Journalismus ins Digitale erfolgt unter erschwerten Bedingungen. Erhöhter Produktionsdruck in einem 24/7-Zyklus auf mehreren Plattformen und Kanälen lässt wenig Ruhe für Experimente mit offenem Ausgang; es gibt keine Lizenz zum Scheitern. Tamedia schickt deshalb Kader und verdiente Journalisten in eine Schnellbleiche an eine Uni nach New York. Bei der SRG werden strategische Posten in der digitalen Publizistik mit Nachwuchsleuten besetzt. Und in der Ausbildung werde die angehenden Medienleute mit Internet, Radio und TV vertraut gemacht.
Wird der digitale Journalismus besser als der Zeitungsjournalismus? Ihm steht das grösste je mögliche Instrumentarium zur Verfügung für die Ansprache des Publikums. Multimedial, immersiv, mehrdimensional - mehr geht eigentlich gar nicht. Tatsächlich hat sich seit ein paar Jahren eine international gut vernetzte Szene von Medienschaffenden herausgebildet, die sich intensiv mit neuen Gestaltungsmöglichkeiten befasst und selbst auch solche produziert. Nahezu täglich sehen wir neue und überraschende digitale Darstellungsformen. Ob Politik, Sport, Kultur oder Unterhaltung, in allen Genres lassen sich Geschichten neu erzählen. Zahlen und Statistikreihen, die bisher in einer Behördenschublade lagerten, werden dank Datenjournalismus digital zum Leben erweckt.
Nur: Erreicht man damit auch das gewünschte Publikum? Zeitungen, Radio und Fernsehen tun sich schwer damit, ein jüngeres Publikum anzusprechen. Die Nutzerschaft der bisherigen Kanäle wird immer älter und stirbt zunehmend weg, ohne dass in gleichem Mass Nachwuchs auftaucht. Junge binden sich nicht mehr an traditionelle Marken. Ihr Medienkosmos sind die digitalen Plattformen, wie Facebook, WhatsApp, Snapchat. Klar werden auch dort NZZ-Artikel geteilt. Aber immer gratis und aus dem redaktionellen Kontext gelöst. Das ist nur beschränkt im Interesse des Verlags. Aktuell legen die Traditionsmarken ihre Hoffnungen auf zielgruppenspezifische Plattformen, wo jüngere Medienkonsumenten so angesprochen werden, wie sie das von ihrer dominierenden digitalen Mediennutzung her gewohnt sind. Der Erfolg ist noch ungewiss.
Die Zukunftsaussichten sind sicher nicht rosig, aber auch nicht hoffnungslos. Zwar treibt die Digitalisierung die Entwicklung rasant voran, aber genauso verfügt die Politik über einen vergleichsweise grossen Spielraum im Medienbereich. Ihre zentrale Aufgabe wird es sein, einen neuen Rahmen zu schaffen für die Regulierung der Service-public-Medien, die auch im künftigen Mediensystem der Schweizer eine zentrale Rolle spielen sollen - als öffentliches Korrektiv zu rein marktgetriebenen Angeboten.