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Eine gesellschaftliche, keine technische Diskussion

Wie reagieren Gewerkschaften in Europa auf die neuen Arbeitsprozesse und Arbeitsformen der digitalen Revolution? Ein Blick nach Deutschland zeigt, dass die formalisierte Zusammenarbeit von Wissenschaft, Unternehmen, Verbänden und Politik Früchte trägt. Und dass die Gewerkschaften sich bedenkenlos auch für digitale Mikrojobber verantwortlich fühlen.

 

Chancen nutzen, Gefahren minimieren. Die Devise ist klar. Die Diskussionen werden überall geführt, und sie gleichen sich. Aber es gibt aufschlussreiche Unterschiede. Wirtschaftspolitische Traditionen, der Ausbau­stand der Arbeitnehmerrechte, Gewicht und Grundhaltungen der Gewerkschaften geben den Debatten ihr je eigenes Gepräge. Ein Beispiel: In Deutschland gibt es gemeinsame Überlegungen von Staat, Unternehmern und Gewerkschaften zur Digitalisierung, Vernetzung und Flexibilisierung. In der Schweiz dagegen gilt Industriepolitik den Arbeitgebern und der bürgerlich dominierten Politik als ordnungspolitisches Unding. Es wird den Betrieben überlassen, wie sie auf die Entwicklung reagieren wollen.

Oder: Die grossen deutschen Gewerkschaften Verdi und IG Metall kümmern sich auch um Crowd- oder Cloudworker, jene wachsende Gruppe selbständiger Ich-AGs, die auf Internetplattformen pro­gram­mieren, kontrollieren, ­designen und katalogisieren. Die Merkmale ihrer oft schlecht bezahlten Mikrojobs: aus­ufernde Arbeitszei­ten, finanzielle Un­sicherheit, keine Sozialversicherung. Die deutschen Gewerkschaften organisieren, beraten und vertreten die Cloudworker, obwohl sie nicht zur ihrer klassischen Klientel gehören. Im April 2015 verkündete die deutsche Dienstleistungsgewerkschaft Verdi stolz, sie gehe als erste Gewerkschaft weltweit mit einem eigenen Beratungsangebot für Cloudworker online (www.cloudworker-beratung.de). Schon im Mai zog die IG Metall mit einem eigenen Portal nach (www.faircrowdwork.­org) und passte wenige Monate später auch ihre Statuten an: Seither können auch Freiberufler und Crowdworker Mitglied werden. Die IG Metall reagiere damit auf die digitale Revolution und öffne sich für die Fachkräfte von morgen. Verdi hatte diesen Schritt bereits einige Jahre früher gemacht.

Auch die digitale Arbeitswelt fair gestalten

Die offensive Reaktion der beiden Gewerkschaften ist bezeichnend. Sie stellen sich der Veränderung nicht entgegen. In den Worten von Christiane Benner, zweite Vorsitzende der IG Metall: «Niemand will heute eine Maschinenstürmerdebatte lostreten.» Stattdessen gehe es darum, auch die digitale Arbeitswelt fair zu gestalten und dafür zu sorgen, dass die Beschäftigten Schritt halten können. Als Schlüssel dazu gilt die Bildung. «Nur mit Bildung 4.0 wird Industrie 4.0 zur Chance für Unternehmen und Beschäftigte», sagte Jörg Hofmann, erster Vorsitzender der IG Metall.

Ihre Ideen vertritt die IG Metall auch auf der «Plattform Industrie 4.0», die vor einigen Jahren von der Regierung initiiert worden ist. Es ist ein Rahmen, in dem Unternehmen, Verbände, Gewerkschaften, Wissenschaft und Politik gemeinsam Trends und Entwicklungen identifizieren und Handlungsempfehlungen erarbeiten. Für IG-Metall-Chef Hofmann trägt das Mitmachen erste Früchte: «Es ist gelungen, den lange rein technikzentrierten Diskurs zur Digitalisierung für Fragen der Arbeitswelt und Beschäftigung zu öffnen.»

Bildung und echte Mitbestimmung fördern

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat letztes Jahr seinerseits den Dialog «Arbeiten 4.0» gestartet. In einem «Grünbuch» hat es Beschreibungen, Analysen und offene Fragen zur Arbeitswelt von morgen formuliert, zu denen sich nun alle Interessierten vernehmen lassen können. Bis Ende Jahr soll daraus das «Weissbuch Arbeit 4.0» entstehen.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat die Anliegen der Beschäftigten formuliert. Im Zentrum auch hier: Die Bildung. Es brauche rechtliche Rahmenbedingungen, die es den Angestellten ermöglichen, sich so zu qualifizieren, dass sie am Ball bleiben können. Die Arbeitgeber sollen die nötige Zeit für Weiterbildungen gewähren und die Kosten dafür übernehmen.

Weiter fordert der DGB mehr Mitbestimmung der Beschäftigten. Bei der Einführung von neuen Technologien und Arbeitsprozessen sollen sie mitreden können. Ebenso bei der Flexibilisierung der Arbeitszeit: So soll gewährleistet werden, dass mehr Freiheit und bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf herauskommen statt mehr und entgrenzte Arbeit. Konkret fordert der DGB zum Beispiel den Log-off-Knopf: Das Recht, ausserhalb der Arbeitszeit nicht erreichbar zu sein. Und er will auch die Cloudworker vor Ausbeutung schützen: mit einem Mindesthonorar für Soloselbständige und arbeits- und sozialrechtlichem Mindestschutz.

Automatisierungsresistente Arbeit unterstützen
Verdi ergänzt die Stellungnahme des DGB mit einer eigenen, die stärker auf den Bereich Dienstleistungen fokussiert. Verdi geht davon aus, dass Computer in den nächsten Jahren einen weiteren Teil der Arbeit übernehmen, die heute von Menschen geleistet wird. Für Wissensarbeit und personenbezogene Dienstleistungen werde es aber weiterhin Menschen brauchen. «Deshalb sind erfolgversprechende beschäftigungswirksame Innovationen vor allem im Dienstleistungsbereich zu fördern.» Um diese gesellschaftlich notwendige und «automatisierungsresistente» Arbeit – namentlich im Gesundheits- und Sozialbereich – zu finanzieren, müssten die Produktivitätsgewinne aus der Digitalisierung umverteilt werden. «Es gilt, den Horizont auf wachsende und zukunftsweisende Sektoren zu richten und entsprechend die Konzepte für ‹Arbeiten 4.0› nicht von der Industrie her zu denken.»

Überwachung begrenzen

Während dies zwischen den Gewerkschaften noch zu reden gibt, ist eine andere Forderung unumstritten. Verdi will die Daten der Beschäftigten besser schützen – nicht nur die Daten zur Leistung und im Betrieb. Arbeitgeber sammeln auch Daten darüber, was Angestellte in der Freizeit machen. Solchem Missbrauch soll mit einem starken Datenschutzgesetz der Riegel geschoben werden.

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