Artikel

Es ist Arbeit, keine freiwillige Sklaverei

Auf den Redaktionen werden Arbeitszeiten seit jeher nicht erfasst. Dies verstösst gegen das Arbeitsgesetz und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. syndicom hat zusammen mit der Journalistenorganisation Impressum vier Medienhäuser beim Arbeits­inspektorat angezeigt. Ziel ist es, die Arbeitgeber an den Verhandlungstisch für einen Gesamtarbeitsvertrag zu zwingen. 

Das Thema Arbeitszeiterfassung war bis vor einigen Jahren ein eigentliches Tabuthema unter den Journalistinnen und Journalisten. Wer sich für Arbeitszeiterfassung aussprach, wurde schnell einmal in die Ecke der Erbsenzähler gestellt.

Der GAV stimmte für alle

Medienschaffende waren stolz darauf, dass sie über eine gewisse Zeitautonomie verfügten und die Arbeitsinhalte weitgehend selber bestimmen konnten. Dafür nahmen sie unregelmässige Arbeitszeiten sowie Nacht- und Sonntagsarbeit in Kauf. Im alten Gesamtarbeitsvertrag (GAV) für die Medienbranche der Deutschschweiz und des Tessins hiess es darum unter dem Kapitel Arbeitszeit lapidar, dass das Medienunternehmen bei der Festlegung von Arbeitszeit und Dienstplänen auf die Bedürfnisse der Angestellten mit Familien- und Betreuungspflichten «Rücksicht nimmt».

Immerhin sah der GAV für regelmässige Nacht- und/oder Sonntagsarbeit einen Anspruch auf sechs zusätzliche arbeitsfreie Tage vor. Zudem wurden im GAV, der auch die freien JournalistInnen mit einbezog, weitere essenzielle Punkte wie Löhne, Urheberrecht, Mitwirkung sowie Aus- und Weiterbildung geregelt, sodass das Gesamtpaket für alle Seiten stimmte.

Arbeitsbedingungen massiv unter Druck

Seit der Kündigung des GAV durch den Verband Schweizer Medien (VSM) vor zehn Jahren gerieten die Arbeitsbedingungen, Urheberrechte, Löhne und Honorare immer mehr unter Druck. Die Verleger bauten praktisch in allen Medien massiv Stellen ab. «Die Redaktionen müssen mit immer weniger Personal auskommen und aufgrund der Digitalisierung zusätzliche Aufgaben bewältigen», so bringt es syndicom-Zentralsekretärin Stephanie Vonarburg auf den Punkt. Arbeitszeiten von zwölf Stunden seien an der Tagesordnung, Wochenendeinsätze könnten kaum kompensiert werden, zwei und mehr Artikel täglich mit gleichzeitiger Vermarktung über Twitter, soziale Medien und Web-Teaser seien üblich, zusätzliches Bild- und Videomaterial ein Muss. «Kompensations- und Erholungsmöglichkeiten für intensive Arbeitsphasen fehlen gänzlich, eine gesunde Work-Life-Balance ist kaum machbar», betont Stephanie Vonarburg.

«Jetzt schlägts 13!»

Weil aufgrund des GAV-losen Zustandes sozialpartnerschaftliche Lösungen in der Medienbranche komplett fehlen, kommt das nationale Arbeitsgesetz (ArG) zum Zug. «Ziel des Arbeitsgesetzes ist der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmenden», führte Corina Müller an einer Tagung von syndicom und Impressum am 13. Juni in Zürich aus. Müller, Ressortleiterin Arbeitnehmerschutz beim Seco, wies darauf hin, dass die Arbeitszeitregelung und damit auch die Arbeitszeit-erfassung ein Kernstück des öffentlichen Arbeitsrechts ist.

Im Klartext bedeutet dies: die Arbeitgeber in der Medienbranche sind verpflichtet, die Arbeitszeit der Angestellten zu erfassen, um deren Gesundheitsschutz zu garantieren. Mangels sozialpartnerschaftlichen Dialogs haben syndicom und Impressum die Notbremse gezogen. Im Rahmen der Aktionsreihe «Jetzt schlägts 13!» zeigten sie nacheinander Ringier, Tamedia und die NZZ-Gruppe bei den Arbeitsinspektoraten wegen fehlender Arbeitszeiterfassung auf den Redaktionen an, im Oktober folgte die Anzeige der Ostschweizer Mediengruppe Zehnder, die in 17 Regionen 23 Gratis- und Wochenzeitungen herausgibt.

Kopflose Tamedia

Zehnder liess umgehend verlauten, dass man die Arbeitszeiterfassung für JournalistInnen einführe. Mehr Mühe mit der Pflicht zur Zeiterfassung zeigte Tamedia. Offensichtlich war sie vom Arbeitsinspektorat aufgefordert worden, ein Zeiterfassungssystem auf den Redaktionen einzuführen. «Die Personalabteilung hat Mitte September Hals über Kopf eine Excel-Tabelle eingeführt, die kompliziert und für die Redaktionen untauglich ist», sagt Stephanie Vonarburg. Es sei darum kein Wunder, dass diese Kurzschlusshandlung bei den JournalistInnen schlecht angekommen ist. Vonarburg weist darauf hin, dass es tauglichere Instrumente gibt, darunter auch mobile Apps. Die Medienschaffenden dürften nicht gepiesackt werden.

«Sozialpartnerschaft ja, aber ohne GAV»

Auch für den Verlegerverband VSM ist die Einführung eines zeitgemässen Arbeitszeiterfassungsmodells ein Anliegen. Er verweist auf die Branchenlösung Banken (siehe Kasten), die Mitte September zustande gekommen ist. Die neue Direktorin von Schweizer Medien und ehemalige Journalistin Verena Vonarburg führt aus, dass sie deswegen Gespräche mit den Sozialpartnern, den Behörden von Stadt und Kanton Zürich sowie mit dem Seco geführt hätten. «Eine rigide Arbeitszeiterfassung ist auf keinen Fall im Sinn der Medienschaffenden», sagt sie. Der VSM habe zahlreiche besorgte Rückmeldungen von Medienschaffenden erhalten, die vor der Gefahr von Stempeluhren gewarnt hätten.

Stephanie Vonarburg bestätigt die Gespräche mit dem VSM. Die Verleger seien indes einzig bereit gewesen, das Thema Arbeitszeiterfassung isoliert anzuschauen, nicht im Kontext der gesamten Arbeitsbedingungen und eines GAV. Den Verlegern gehe es ganz offensichtlich nur um die Erledigung eines lästigen kleinen Problems. Den Journalistenverbänden gehe es darum, die Arbeitsüberlastung und die sich verschlechternden Arbeits- und Lohnbedingungen gezielt anzupacken. «Wir sind bereit, für eine Branchenlösung Hand zu bieten, wenn diese zwischen den Sozialpartnern verhandelt wird und Teil eines Gesamtarbeitsvertrags ist – wie dies uns die Bankbranche vorgemacht hat», stellt die syndicom-Zentralsekretärin klar.

Informiert bleiben

Persönlich, rasch und direkt

Du willst wissen, wofür wir uns engagieren? Nimm Kontakt zu uns auf! Bei persönlichen Anliegen helfen dir unsere Regionalsektretär:innen gern weiter.

syndicom in deiner Nähe

In den Regionalsekretariaten findest du kompetente Beratung & Unterstützung

Jetzt Mitglied werden