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Her mit den Büchern!

Ein Interview in der «NZZ am Sonntag» brachte Anfang Februar die Schweizer Bibliothekswelt in Wallung. Gut daran: Es wird wieder über das Buch und die Bedeutung von Bibliotheken diskutiert. Und wie!

 

Wann warst du das letzte Mal in einer Bibliothek? Letzte Woche? Prima, dann weisst du, wovon hier die Rede sein soll! Schon lange nicht mehr oder überhaupt noch nie? Gemach, du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben, aber ich kann dir versichern: Du hast etwas verpasst. Womöglich geistert in deinem Kopf nämlich ein überholtes Bild herum – etwa das Klischee der verstaubten Regale, des strengen Blicks der Bibliothekarin, des mühsamen Suchens nach der richtigen Signatur. Bibliotheken sind noch immer ein Hort des Wissens, haben sich aber grossmehrheitlich stark verändert.

Weg mit den Büchern, sagt der Direktor

Genau das will einer nicht wahrhaben, der es eigentlich besser wissen müsste: Rafael Ball, seines Zeichens neuer Leiter der ETH-Bibliothek in Zürich. Mit seinen Aussagen in der «NZZ am Sonntag» vom 7. Februar hat er Bibliotheksmitarbeitende wie BenutzerInnen in Rage gebracht.

Fassen wir zuerst die umstrittenen Aussagen zusammen: Öffentliche Bibliotheken seien überbewertet und inzwischen überflüssig, sie seien nur mehr ein Hort der Bücher statt des Wissens. Dank der Digitalisierung finde man alles Relevante bequem im Internet, die meisten Bücher könne man getrost entsorgen und viele, gerade kleinere Bibliotheken schliessen.

Dazu meinte etwa die Direktorin der Zentralbibliothek Zürich eine Woche später in einem Leserbrief: «Unser Kollege von der ETH-Bibliothek (...) liebt die Provokation. Es ist längst bekannt, dass die Bibliotheken heute zwei Welten bedienen müssen: die digitale und die analoge. Es ist auch bekannt, dass diese Doppelfunktion Ressourcen verschlingt. Aber deswegen die ganze Bibliothekswelt abzuschaffen, das geht zu weit.»

Wir brauchen das Papier, erinnert die Direktorin

Heute geht es oft um eine schnelle Orientierung im Datenmeer. Auch dazu äusserte sich Susan­na Bliggenstorfer: «Für die an die Orientierung anschlies­sende Aneignung des Wissens durch intensives Studium ist das Buch mit seiner unschlagbaren Übersicht bereits wieder sehr gefragt.» Deshalb würden ja auch so viele elektronisch vorliegende Texte ausgedruckt.

Bliggenstorfer kann weiterhin steigende Zahlen sowohl bei den BenutzerInnen als auch bei den Ausleihen präsentieren und bestätigt damit für wissenschaftliche Bibliotheken einen überraschenden Trend.

In den öffentlichen Stadt- und Gemeindebibliotheken allerdings sinken die Ausleihzahlen seit 2011. Laut Bundesamt für Statistik (BfS) waren die Ausleihen 2014 aber immer noch höher als 2007. Der Rückgang wird vor allem auf die eingebrochene Nachfrage bei CD und DVD zurückgeführt. Interessant ist in diesem Zusammenhang die in der «Neuen Zürcher Zeitung» zitierte These von Schaffhausens Stadtbibliothekar Oliver Thiele, nämlich die, dass die Medien-Ausleihe in den Zeiten der Sharing-Economy sogar im Trend liege. Inwiefern haben sich gerade allgemein-öffentliche Bibliotheken verändert?

Als ich in den 1980er-Jahren meine Ausbildung zur Diplombibliothekarin absolvierte, träumte ich von einem Café in der Bibliothek. Nach vielen Jahren im Journalismus kehrte ich in die Bibliotheksarbeit zurück und stellte mit Freude fest: Da ist einiges gegangen! Kaum war die Regionalbibliothek Wetzikon beispielsweise umgezogen und hatte am neuen Standort ihre Türen geöffnet, entdeckten SchülerInnen die hellen Arbeitsplätze am Fenster. Und das ohne dass wir explizit Werbung dafür gemacht hätten.

Ort ohne Konsumzwang

Mehr Werbung braucht das moderierte Erzählcafé, das wir vor einem Jahr lanciert haben. Fast schon ein Selbstläufer sind indes die Veranstaltungen für Kinder, hier leisten wir einen wichtigen Beitrag zur Leseförderung. Kurz, moderne Stadt- und Gemeindebibliotheken sind Begegnungs- und Kommunikationsorte. Ganz wichtig: Sie sind heutzutage eine der wenigen Einrichtungen, in denen es keinen Konsumzwang gibt.

In Wetzikon ist der Internetzugang für alle BesucherInnen gratis. Kürzlich verfasste bei uns ein Student, dessen Muttersprache garantiert nicht Deutsch war, sein Gesuch für ein Stipendium, eine Migrantin druckte ihre Bewerbung für eine Arbeitsstelle aus und eine ältere Frau kam auf diese Weise zu ihrer neuen Wohnung.

In Deutschland stellen Bibliotheken Flüchtlingen unter anderem kostenlose Bibliotheksausweise aus und reagieren damit auf eine gesellschaftliche Realität; die Stadtbibliothek Thun wiederum ermöglicht Flüchtlingen kostenlosen Zugang zu Laptops mit einem Internetanschluss, welche die Organisation Thun4Refugees organisiert hat.

Rafael Balls Aussagen sind – abgesehen davon, dass sie arrogant daherkommen – auch kurzsichtig: Die Vorstellung, dass das Internet die Bibliotheken einfach ersetzt hat, könnte von unter Spardruck stehenden PolitikerInnen noch so gerne aufgenommen werden.

Totgesagte leben länger

Alles gut und schön, kann man nun sagen, aber wie geht es dem Buch generell? Glaubt man Michael Hagner, dann leben Totgesagte länger. Hagner ist Professor an der ETH Zürich, er lehrt Wissenschaftsforschung und hat 2015 seinen 280 Seiten dicken Beitrag «Zur Sache des Buches» veröffentlicht.

In einer ausführlichen Replik auf Ball schrieb Hagner in der NZZ vom 12. Februar: «Dem gedruckten Buch geht es erstaunlich gut, und das wird auch für längere Zeit so bleiben.» Warum? «Weil es zahllose Leserinnen und Leser gibt, die lieber ein gedrucktes Buch nach Hause tragen und lesen, als die Lizenz für ein E-Book zu erwerben, die ihnen jederzeit wieder entzogen werden kann; und überdies mögen sie es nicht, beim Lesen Datenlieferanten für die gros­sen Unternehmen des Informationskapitalismus zu sein.» Auf Ball schiesst er richtig scharf: «Ein Bibliothekar, der die Forderung aufstellt, man solle endlich die Hemmungen vor elektronischen Büchern überwinden, und der darüber hinaus Bibliotheken zu quasi bücherfreien Zonen erklärt, hat nicht nur seinen Beruf verfehlt, er mischt sich auch in Forschungspraktiken ein, die ihn gar nichts angehen.»

Hagner geht auch auf die Diskussion über die Haltbarkeit digitalisierter Bücher ein. Es sei grossartig, dass Altbestände bedeutender Bibliotheken digital einsehbar blieben, aber wie lange werden die Digitalisate elektronisch lesbar sein? «Gut möglich, dass in zweihundert Jahren niemand mehr genauer erforschen kann, was Informatiker und Teilchenphysiker im Jahr 2016 getrieben haben.»

Lob auf zivilisierte Räume

Hagner bringt noch einen anderen Aspekt ins Spiel, der von vielen KommentatorInnen unberücksichtigt blieb: Bücher oder Attrappen von Büchern als Kulisse aufzubauen, um eine Bibliothek zu simulieren, sei nicht nur Ausdruck eines um hundert Jahre zu spät kommenden Dadaismus, der also keiner mehr sei. Schlimmer: «Die Bildungsinstitution selbst wird zum lächerlichen Kulissenzauber verzwergt, und die Menschen, die etwas auf Bildung, Wissen und Buchkultur geben, werden für so dumm gehalten, dass sie sich damit zufrieden gäben.» Das spiele letztlich politischen Kräften in die Hände, die auf Bildung, sorgfältiges Abwägen, geduldiges Argumentieren und Sachkenntnisse nur zu gerne verzichteten, um simple Antworten, Halbbildung und das Spiel auf der Klaviatur der Emotionen an deren Stelle zu setzen. Michael Hagner nennt Bibliotheken «zivilisierte Räume»; und weil es davon nicht allzu viele gebe, «sollten wir uns ihrer nicht ohne Not entledigen».

Das Buch braucht Förderung

Zum Schluss noch einige Zahlen. Das BfS zählte für das Jahr 2013 in einer unvollständigen Erhebung 775 Bibliotheken mit insgesamt rund 1,4 Millionen aktiven BenutzerInnen.

Der «Tages-Anzeiger» meldete am 18. Februar: Dass die Schweizer Buchhandelsbranche in den letzten Jahren immer weniger Umsatz gemacht hat (2015 waren es 5,7 Prozent weniger als im Vorjahr), ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass 2008 die Buchpreisbindung abgeschafft wurde.

Pikant: Die Zahl der verkauften Bücher hat sich kaum verändert. So hat syndicom mit ihren im Abstimmungskampf geäusserten Befürchtungen leider recht behalten. Ich halte es deshalb mit Tagi-Autor Martin Ebel: «Die Fördermassnahmen des Bundes, die 2016 anlaufen, sind notwendig und dringend.»

* Die Autorin ist stv. Leiterin der Regionalbibliothek Wetzikon (ZH), sie äussert ihre persönliche Meinung.

Rafael Ball in der NZZ a. S.:

Michael Hagner in der NZZ:

Leserbrief von Susanna Bliggens­torfer online nicht verfügbar.

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