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Keine Jobs mehr in der Mitte

Laut Wirtschaftsprofessor Erik Brynjolfsson von der US-Eliteuniversität MIT (Massachusetts Institute of Technology) zerstört die technologische Entwicklung Millionen von Jobs, während die Ungleichheit wächst. 

 

Sie prophezeien eine zweite industrielle Revolution. Nehmen uns bald Roboter die Jobs weg?

Erik Brynjolfsson: Das passiert bereits. Millionen von Arbeitsplätzen wurden schon durch Roboter und Software ersetzt. Bisher betraf das Beschäftigungen, bei denen routinemässig strukturierte Entscheidungen getroffen werden: Bei Büroangestellten, Buchhaltern, gewissen Tätigkeiten in der Fertigung. Viele solcher Arbeiten sind in Ländern wie der Schweiz, den USA oder anderen reichen Ländern bereits verschwunden.

Wie steht es um Beschäftigungen, die eine höhere Qualifikation erfordern?

Immer mehr sind jetzt Arbeiten betroffen, für die man bislang eine höhere Ausbildung brauchte – etwa in Anwaltskanzleien. Heute gibt es Systeme, die Millionen von Dokumenten durchforsten, um genau jene Stelle zu finden, die für einen bestimmten Fall relevant ist. Früher hat man dafür einen Berufseinsteiger engagiert. Der Bedarf an Anwälten ist dadurch in den USA deutlich gesunken. Ein anderes Beispiel sind medizinische Diagnosen. Der IBM-Supercomputer Watson, der vor einigen Jahren mit seinem Sieg im TV-Quiz «Jeopardy» seine Fähigkeiten demonstriert hat, wird heute in einem amerikanischen Spital genau dafür eingesetzt.

Über die Zeit hat der technologische Fortschritt Stellen vernichtet, aber es wurden neue geschaffen und uns geht es insgesamt besser.

Dieses Mal ist es anders. Seit der Jahrtausendwende – also bereits vor der Finanzkrise – stellen wir eine Entkoppelung fest: Der Wohlstand steigt, die Wirtschaftsleistung wächst, es gibt mehr Millionäre denn je – und trotzdem fallen oder stagnieren die Beschäftigungsquote und die mittleren Einkommen. Die Ungleichheit ist grösser geworden.

Sie glauben, das geht so weiter?

Ja. Neue Jobs gibt es vor allem für unqualifizierte und für hochqualifizierte Arbeitskräfte. Die Mittelklasse wird ausgehöhlt. Das dürfte sich noch verschärfen.

Dass sich die Lohnschere weiter öffnet, ist demnach auch Folge der technologischen Entwicklung?

Die technologische Entwicklung war in den letzten 10 Jahren ein zentraler Treiber dahinter. Aber das ist nichts im Vergleich dazu, was noch kommt. In den nächsten 10 Jahren stehen uns bedeutend grössere Veränderungen bevor, weil die Technologien viel mächtiger werden. Und die Entwicklung geht viel rascher, als ich noch vor zwei Jahren erwartet habe. Lange Zeit war es fast unmöglich, einem Roboter beizubringen, einen Stift aufzuheben. Aber in letzter Zeit sehen wir hier massive Fortschritte.

Heisst das, wir haben bald nur noch die Wahl zwischen einem Job als Putzhilfe oder einer Stelle als Softwareentwickler?

Ich weiss nicht genau, welche Jobs verbleiben. Wir hatten schon immer Schwierigkeiten, das vorherzusagen. Vor 200 Jahren waren die meisten Leute Bauern. Irgendwann erfand Henry Ford das Auto und Steve Jobs und Bill Gates haben völlig neue Industrien erschaffen. Das hat niemand vorhergesehen.

Welche Jobs sind am wenigsten gefährdet?

Im Moment sind Beschäftigungen, bei denen die zwischenmenschliche Beziehung wichtig ist, am schwierigsten zu ersetzen. Tätigkeiten wie pflegen, erziehen, verhandeln, überzeugen, führen oder motivieren: Das alles kann man nicht einfach programmieren. Das Gleiche gilt für Kreativität – die Fähigkeit, sich ausserhalb von etablierten Denkmustern zu bewegen. Darum kommt der Förderung des Unternehmertums eine grosse Bedeutung zu.

Können Sie das ausführen?

Die Jobs der Zukunft entstehen in neuen Unternehmen, neuen Branchen, neuen Produkten oder Dienstleistungen.

Bedeutet das, Grosskonzerne verlieren tendenziell an Bedeutung?

Das hängt davon ab, wie man Grösse definiert. Die drei gros­sen Autokonzerne, die die US-Wirtschaft bis zum Ende des 20. Jahrhunderts dominiert haben, sind an der Börse heute sehr viel weniger wert als die drei einflussreichsten Technologiefirmen. Allerdings beschäftigen General Motors, Ford und Chrysler noch immer ein Vielfaches mehr an Leuten als ­Apple, ­Google und Facebook. Heute dominiert Grösse ohne Masse: Internetkonzerne beeinflussen zwar das Leben von Milliarden von Menschen. Sie brauchen dafür aber viel weniger Arbeitskräfte oder Kapital als früher.

Welche gesamtwirtschaftlichen Folgen hat das?

Technologien ersetzen nicht nur Arbeit, sondern auch Kapital. Wenn es keine grossen Investitionen mehr braucht, um ein Unternehmen mit einem globalen Angebot aufzubauen, hat das eine geringere Kapitalnachfrage zur Folge. Das führt zu tieferen Zinsen.

Was für einen Einfluss hat die aktuelle Wachstumsschwäche auf diese Entwicklung?

Mir ist schleierhaft, wieso in den USA trotz rekordtiefer Zinsen nicht mehr in öffentliche Infrastruktur investiert wird. Auch die Ausgaben für Forschung und Entwicklung haben sich in den letzten Jahren halbiert – von 6 auf 3 Prozent der Wirtschaftsleistung. Flughäfen, Stras­sen, Brücken: wenn wir das nicht jetzt modernisieren, wann dann? Aber wir müssen auch tiefer liegende strukturelle Probleme angehen.

Eines dieser Probleme ist die Ungleichheit. Die Mehrheit der Wirtschaftsführer glaubt nicht, dass sie in den nächsten fünf Jahren kleiner wird. Was sagen Sie dazu?

Das ist mein grösster Frust. Alle fragen mich: Was wird mit uns geschehen? Wird alles gut? Oder geht alles den Bach runter? Das ist die falsche Einstellung. Technologie ist ein mächtigeres Mittel, als es in der Geschichte der Menschheit je zur Verfügung stand. Es gibt uns die Freiheit, die Dinge anders anzupacken. Wir haben die Wahl: Wir können eine Gesellschaft mit geteiltem Wohlstand gründen, die reicher ist und gleichzeitig mehr Menschen an diesem Reichtum teilhaben lässt. Oder wir entscheiden uns für eine Gesellschaft, in der es noch mehr Ungleichheit gibt und die einigen wenigen Menschen noch mehr Macht verleiht. Wir müssen entscheiden, in was für einer Welt wir leben wollen.

Wo müssen wir konkret ansetzen?

Die Frage ist nicht, was Technologie mit uns anstellt – sondern was wir mit Technologie anstellen wollen. Einer der wichtigsten Aspekte scheint mir die Neuerfindung des Bildungssystems zu sein. Es muss darauf ausgelegt werden, Kreativität und Sozialkompetenz zu fördern. Es ist bestimmt kein Zufall, dass Microsoft-Gründer Bill Gates, Amazon-Gründer Jeff Bezos, Wikipedia-Gründer Jimmy Wales, Facebook-Gründer Mark Zuckerberg oder die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin alle eine Montessori-Schule besucht haben.

Was ist deren Erfolgsrezept?

Maschinen sind sehr gut in strukturierter Problemlösung – man muss ihnen nur die richtigen Schritte beibringen. Bei unstrukturierten Problemen haben sie allerdings Mühe. Pablo Picasso sagte: «Computer sind nutzlos. Sie können nur Antworten geben.» Und er hatte recht. Natürlich sind Antworten nützlich, aber heute ist es wichtiger, die richtigen Fragen zu stellen. Die Montessori-Methode ermutigt die Kinder, spielerisch zu erkunden, was wichtig ist und was nicht – auf eine Art, wie es Maschinen nicht können. Solche kreativen Problemlöser brauchen wir künftig.

Und wer soll die Neuerfindung des Bildungssystems bezahlen?

Es geht nicht nur um Geld. Ein Grossteil des letzten Jahrhunderts kann als Wettlauf zwischen Technologie und Bildung betrachtet werden. Im 20. Jahrhundert haben wir uns den Vorsprung erkauft, indem wir mehr in Bildung investiert haben. Aber das reicht nicht mehr. Wir werden auch in diesem Jahrhundert mehr investieren müssen. Wichtiger ist aber, das System zu reformieren. Solange wir das nicht fertigbringen, ist jeder zusätzliche Dollar umsonst.

Wie soll das gehen?

In gewissen Bereichen kann Technologie die Bildung radikal demokratisieren. Nicht nur, was das Verfügbarmachen von Inhalten betrifft, sondern auch den Zugang zum Bildungssystem. Am MIT bieten wir eine Gratis-Internet­vorlesung für die Entwicklung von Leiterplatten an. 150 000 StudentInnen haben sie letztes Jahr abonniert, darunter ein 16-Jähriger aus der Mongolei. Er erzielte bei der Prüfung die maximale Punktzahl – und studiert darum jetzt am MIT. Ohne den Onlinekurs wäre er nie so weit gekommen. Ich bin überzeugt, dass der junge Mongole in fünf Jahren kein Einzelfall mehr ist – sondern die Regel.

Dennoch geht die Entwicklung weltweit nicht hin zu mehr Gleichheit, auch nicht in der Bildung. Was muss die Politik tun?

PolitikerInnen in einem demokratischen System machen das, was das Volk von ihnen verlangt. Sie werden also nichts unternehmen, bis die Leute verstanden haben, was auf dem Spiel steht. Diesen Schritt kann man nicht einfach überspringen. Selbst die führenden Köpfe der Welt orientieren sich an den Anliegen der Wahlbevölkerung. Daran müssen wir arbeiten. Ich habe selbst mit US-Präsident Barack Obama und anderen Staatsoberhäuptern gesprochen. Einige von ihnen haben die Probleme sogar verstanden.

Was, wenn all jene, die von der steigenden Ungleichheit profitieren, kein Interesse daran haben, etwas zu ändern? Wenn sie ihren Reichtum nicht teilen wollen?

Ich habe mit vielen dieser Leute gesprochen. Die meisten sind der Meinung, dass es in ihrem Interesse wäre, die Ungleichheit zu bekämpfen. Sei es, weil ihnen etwas am Rest der Welt liegt oder weil sie keine Lust haben, in einer Gesellschaft zu leben, in der sie bewaffnetes Wachpersonal brauchen. Die Reichen können ihren Besitz nur bewahren, wenn der Rest der Gesellschaft das duldet.

In Ländern mit einer hohen Ungleichheit sehen wir von einem solchen Bewusstsein wenig.

Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, was passiert, wenn es kippt. Ich plädiere weder für einen Klassenkampf noch sage ich, dass uns einer bevorsteht. Aber die Angst davor ist unter den Reichsten real.

Sie sind zu einem Viertel Schweizer. Wo sehen Sie die Rolle unseres Landes?

Reiche Länder wie die Schweiz haben das Potenzial, der Welt als Vorbild dafür zu dienen, wie man mit einer Gesellschaft umgeht, in der es mehr Automatisierung und mehr Reichtum gibt. Dazu müssen der Arbeitsmarkt und die Verteilung von Einkommen oder Steuern neu organisiert werden. Mindestlöhne zum Beispiel sind ein wichtiges Thema. Es ist grossartig, dass es auf der ganzen Welt Länder gibt, die verschiedene Massnahmen testen. Nur so finden wir heraus, was am besten funktioniert. Mein Anliegen ist es, die zentrale Fragestellung zu verändern. Von «Was wird geschehen?» zu «Was wollen wir, dass geschieht?».

Dieser Artikel erschien erstmals im «Tages-Anzeiger» vom 6. März.

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