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Luftschlösser aus Amazonien

Sieht so die digitale Zukunft aus? Nach dem Angriff auf den stationären Buchhandel durch Internetversand und E-Reader sahen viele das gedruckte Buch und den Buchhandel schon auf dem Sterbebett. Jetzt präsentiert der Onlinehändler Amazon einen Logistik-Mix aus uralter und künftiger Technik. Eine Phantasterei? 

 

Oft gleichen sich die Abbildungen von Produkten der schönen neuen Welt: mal sind es Maschinen mit beweglichen Tentakeln wie auf den Fotos von Medizin- oder Industrierobotern, mal die Gesichtchen von KI-Robotern, die freundlichen Trickfilmfiguren ähnlich sehen. Und nun das (s. rechts): eine Skizze in Schwarzweiss mit altertümlichen Luftschiffen – das erinnert eher an frühere Zeiten. Die Abbildung zur Patentanmeldung des zukünftigen Logistiksystems von Amazon erstaunt und fasziniert. Sie wurde von den Medien denn auch flächendeckend aufgenommen. Das Bild überrascht, weil es alt und neu verbindet: Zeppeline und Drohnen, 20. und 21. Jahrhundert in ungewohnter Harmonie. Die Apologeten der neuen Welt beschwören uns sonst doch immer, dass die Digitalisierung die Welt nicht organisch, sondern bruchartig verändern werde. Disruption heisst der Fachbegriff dafür.

Man lasse sich aber nicht täuschen. Amazon gehört zu den innovativsten Firmen unserer Zeit. Mit ihren Neuerfindungen hat sie die Märkte aufgemischt. 1995 begann Amazon in den USA mit dem Bücher-Onlinehandel. Unterdessen ist das Unternehmen der mächtigste Buchhändler der Welt. 2007 warf es den ersten E-Reader auf den US-Markt. Die «digitale Euphorie» war ebenso gross wie die Befürchtungen: wenn das Angebot an E-Books erst gross genug sei, würde sich die überwältigende Mehrheit der LeserInnen auf sie stürzen, von den «Digital Natives» ganz zu schweigen ...

Zwar gab es schon damals Prognosen, dass sich das gedruckte Buch halten werde. Doch das Buchgeschäft hat sich auf jeden Fall massiv verändert. Das betrifft vor allem die Logistik. Der Marktanteil der E-Books aber stagniert auf tiefem Niveau (5–10% im deutschsprachigen Raum, 25–30% in den USA). Als Reaktion darauf eröffnete Amazon bereits 2015 erste «Offline»-Buchhandlungen in den USA. Und letzten Sommer erhielt der Online-Riese in Grossbritannien die Start­erlaubnis für die Auslieferung mit Drohnen. Der skizzierte Zeppelin ist also eine Folge der Marktentwicklung: wenns mit dem digitalen Buch nicht richtig klappt, soll wenigstens die Logistik für analoge Handelsgüter optimiert werden.

Das Bild erinnert auch an das Auf und Ab der digitalen Wirtschaft und daran, wie schwierig es ist, die Durchsetzungsfähigkeit neuer Technologien vorherzusehen. Auch wenn der Graf von Zeppelin Freude gehabt hätte an einer zweiten Chance: die fliegenden Warenlager werden wohl zur Luftnummer.

* Danièle Lenzin ist Bildungsverantwortliche bei der Gewerkschaft Unia und Ex-Co-Präsidentin von syndicom

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