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Mehr als prekäre Arbeitsbedingungen – trotz GAV

Zeitungsverträgerinnen und Zeitungsverträger arbeiten auch mit dem neuen GAV unter unwürdigen Bedingungen. Das zeigt der Besuch bei Erna Brägger, die seit 2010 bei der Presto AG angestellt ist und in der Betriebskommission die Rechte der ArbeitnehmerInnen vertritt. 

«Wenn ich morgens um 6.30 Uhr von meiner Zeitungstour zurückkomme, geht der Berufsverkehr so richtig los. Wie die Hornissen aus ihren Nestern kommen die Autos auf die Stras­sen. Wehe, wenn ich dann noch nicht fertig bin! Bin ich dann aber zu Hause, ist es ein schönes Gefühl: gemütlich frühstücken, während die anderen zur Arbeit fahren.» Erna Brägger lacht. Sie lebt mit ihrem Mann in einem kleinen Einfamilienhaus bei Wil. Seit einem Jahr ist sie pensioniert. Neben ihrer Rente verdient sie bei Presto rund 1000 Franken monatlich. «Ein nettes Zubrot», wie sie meint. Erna braucht frühmorgens durchschnittlich 100 Minuten, um ihre rund 150 Zeitungen und Magazine auszutragen. Sie verdient Fr. 20.75 pro Stunde.

Immer wieder
kleine Tricksereien

Wie viele der über 6000 Presto-MitarbeiterInnen zum Minimallohn von Fr. 17.50 arbeiten, lässt sich nicht sagen, eines ist aber klar: Siebzehn Franken fünfzig in der Stunde, auch wenn darauf nach GAV noch ein Zuschlag von 10% pro Stunde geschuldet ist, reichen nicht aus, um würdig zu leben.

Die Zeitungsverträgerinnen und Zeitungsverträger arbeiten zu Randzeiten: Arbeitsbeginn ist 5 Uhr morgens, und um 6.30 Uhr müssen die letzten Zeitungen im Briefkasten sein. Festangestellte machen das sechs Mal pro Woche. Meist sind sie mit ihren privaten Autos unterwegs – die Benzinentschädigung beträgt lediglich 65 Rappen pro Kilometer. Auf die Arbeitsbedingungen und das Verhalten von Presto angesprochen, reagiert Erna erzürnt: «Als Mitglied der Betriebskommission bekomme ich allerhand Missstände mit. Und immer wieder wird versucht, mit kleinen Tricksereien den Arbeitenden Kosten aufzubürden, die die Presto tragen sollte!» Bei Presto arbeiten vor allem Frauen. Häufig sind sie auf jeden Rappen angewiesen. «Einige sind pensioniert, so wie ich», erzählt Erna. Manche hätten nur 1700 Franken AHV im Monat: «Wie soll man damit überleben?»

«Wie die letzten Unterhunde» fühlten sie sich von der Post behandelt. Die Presto gehört zu hundert Prozent der Post. «Wieso gelten für uns nicht die gleichen Bedingungen wie für direkt bei der Post Angestellte?» Indem die Post die Zeitungszustellung in ihre Tochterfirma Presto AG auslagere, versuche sie, Kosten auf dem Buckel der Mitarbeitenden zu sparen.

Der neue GAV, die Notlösung

Bereits 2010 waren die GAV-Verhandlungen schwierig. Es waren die ersten überhaupt! Für die nächste Verhandlungsrunde, 2013, erhoffte man sich bessere Erfolge (siehe syndicom-Zeitung 15/2013).

Fritz Gurtner, der letztes Jahr für syndicom als Verhandlungsleiter dabei war, meint dazu: «Die Änderungen im GAV brachten Vor- und Nachteile mit sich. Neu hat man ab dem ersten Krankheitstag Anrecht auf Entschädigung. Aus­serdem haben wir erstmals einen einheitlichen Mindestlohn für alle Regionen. Hinzu kommen 10 Prozent Zuschlag. Ein Negativpunkt ist allerdings, dass Feiertage fortan nicht mehr ausbezahlt werden, ausgenommen der 1. August.»

Auf das Gesamtergebnis angesprochen, sagt Fritz Gurtner: «Wir können mit dem neuen GAV nicht zufrieden sein. Dafür mussten wir der Post gegenüber zu viele Abstriche machen. Trotzdem entschieden sich unsere Mitglieder nach langen Diskussionen für den GAV – denn die Alternative wäre ein vertragsloser Zustand gewesen. Die Arbeitsbedingungen bei Presto sind aber nach wie vor ungenügend und der GAV mehr Notlösung als Lösung.»

Quantensprung Mindestlohn

Erna Brägger, die ebenfalls an den GAV-Verhandlungen teilnahm, sieht es ähnlich: «Ich bin überhaupt nicht zufrieden mit dem GAV. Aber was wäre ohne GAV geschehen? Die Anstellungsbedingungen wären mit grosser Sicherheit noch weiter gesunken, da bin ich mir sicher!»

Auf ihre Ziele bei den nächsten GAV-Verhandlungen angesprochen, die voraussichtlich 2016 stattfinden, meint Erna: «Was wir jetzt geben mussten, werden wir wieder versuchen zurückzubekommen. Es braucht endlich anständige Löhne! Ich engagiere mich deshalb aktuell sehr für die Mindestlohn-Initiative. Mit der syndicom-Regionalgruppe in St. Gallen haben wir schon mehrere Aktionen geplant. Und auch von der Presto-Betriebskommission aus werden wir Anlässe organisieren. Wenn wir bei der Mindestlohn-Initiative ein Ja schaffen, dann verdienen wir statt 17.50 auf einen Schlag 22 Franken pro Stunde. Das wäre für uns Zeitungszustellende ein Quantensprung!»

* Redaktionspraktikant

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