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«Sie haben uns einen Teil unserer Persönlichkeit genommen»

«Ich würde mich als Frau mittleren Alters bezeichnen, als Buchhändlerin, Autorin und Mutter. Und als Lorraine-Bewohnerin.» Die Frau, die sich selber so beschreibt, heisst Christina Frosio und lebt seit 17 Jahren im erwähnten Quartier im Norden Berns. Hier arbeitet die bereits preisgekrönte Kurzgeschichten- und Romanautorin auch: in der Buchhandlung Sinwel. 

 

Schon als junge Frau hat Christina Frosio das alte Lorrainebad geliebt. Und zweimal war sie im Viertel jenseits der Brücke in jemanden verliebt gewesen. «Deswegen gilt dem inneren Kreis der Lorraine mein Daheimgefühl. Beim Gedanken, hier wegzumüssen, kann ich den Flüchtlingen nachfühlen, für die ich manchmal gekocht und deren Heimweh ich gespürt habe.»

Christina Frosio schreibt jeden Tag. «Ja, ich bin eine Schreibende», sinniert sie und schaut über die Aare. Bevor sie, erst 2006, mit Schreiben anfing, war sie zwar leidenschaftliche Leserin, wusste aber nicht, dass sie auch schreiben wollte: «Ich sah mich eher als Literaturkritikerin, was ich heute nicht mehr gerne wäre. Ich will mich nicht mehr erklärend und analytisch äussern. Und was abstrakte Begriffe wie Liebe, Glaube, Hoffnung zu fassen versuchen, möchte ich lieber indirekt durch Empfindungen ausdrücken.» Meilensteine auf dem bisherigen Weg der Autorin waren der erste Platz des Open-Net-Wettbewerbs anlässlich der Solothurner Literaturtage 2011 und die Werkbeiträge, die sie von Stadt (2011) und Kanton Bern (2012) erhielt. «Langsam habe ich einen Namen und werde immer öfter für Texte angefragt.»

Wenn Buchstaben zu Farben werden

Im Alter von vier Jahren zügelte Christina Frosio mit den Eltern und zwei Geschwistern von Zürich nach Münsingen, wo sie den Rest ihrer Kindheit verbrachte. Nach der obligatorischen Schulzeit, einem Welsch­landjahr, drei ergänzenden Schuljahren in der Steiner-Schule und zwei Jahren Arbeit als Holzofenbäckerin lernte sie Floristin, einen Beruf, den sie sechs Jahre lang ausübte. Es folgten zwei Jahre im legendären Frauenkiosk am Egge in der Länggasse und im Restaurant Sous le Pont in der Reitschule.

Christina Frosio ist Legasthenikerin. Und Synästhetikerin. «Wenn ich handschriftlich schreibe, muss ich sehr langsam vorgehen und gut nachlesen. Es verdreht mir die Buchstaben. Ich weiss noch genau, wie ich in der siebten Klasse Woffnung statt Hoffnung schrieb. Ich erkannte, dass das Wort falsch geschrieben war, konnte es aber nicht korrigieren.» Etwas aufzuschreiben, das sie noch nie gelesen hat, bewirkt ein Chrüsimüsi in ihrem Kopf. Und bereits beim Sprechenlernen sah Christina Frosio zu jedem Laut eine Farbe. Dieses Phänomen wird als Synästhesie bezeichnet. «Jedem Laut entspricht eine Farbe, und zwar immer dieselbe. Ein U zum Beispiel färbt für mich ein Wort braun.» Musik löst bei der Berner Autorin ganze Farbwellenerlebnisse aus.

Hausfrau – mit Lohnarbeit in der Quartierbuchhandlung

Trotz ihrer Schwierigkeiten mit der Sprache absolvierte Christina Frosio dann die verkürzte Lehre als Buchhändlerin und blieb fünfzehn Jahre lang bei der ehemaligen Buchhandlung Stauffacher in Bern. Ihren Beruf liebt sie noch heute. «Ich kann aus dem Vollen schöpfen, aus der Vielfalt der lieferbaren und nur noch antiquarisch erhältlichen Bücher. Ich kann für ein Buch schwärmen und es weiterempfehlen.» Dass Kunden sich manchmal nur an eine Geschichte erinnern, nicht aber an die Verfasserin, stört sie nicht. Das sei vielleicht der Punkt: Dass die Geschichten letztlich wichtiger seien als die Schreibenden.

Als «der Stauffacher» im Unternehmen Thalia aufging, war nicht mehr klar ersichtlich, wer hinter dem Gebilde stand. «Ich konnte Unzufriedenheiten nicht mehr deponieren, wusste nicht mehr genau, wer mich aufregte und wer nicht. Uns Angestellten wurde ein Teil unserer Persönlichkeit genommen.» Seit 2010 ist Christina Frosio deshalb in der kleinen Quartierbuchhandlung tätig. Als Springerin. «Ich kann lohnarbeiten, wenn es mich braucht. Denn das Einkommen meines Mannes ist gross genug, um unsere Familie zu ernähren.» So versteht Christina Frosio sich denn auch klar als Hausfrau. Mit viel Zeit zum Schreiben.

«Gut, die Gewerkschaft im Rücken zu wissen»

Sobald die junge Buchhändlerin ihren ersten «vollen Lohn» erhielt, trat sie der Gewerkschaft – damals noch comedia – bei. «Das machte man so. Bei Stauffacher waren fast alle dabei.» Sie erinnert sich gut an eine Veranstaltung über die Konkurrenzsituation im Buchhandel. Und sie erinnert sich, wie comedia einer Kollegin half, der gekündigt worden war. Persönlich zog Christina Frosio die Gewerkschaft nur einmal bei: zur Überprüfung eines Vertrags, in dem es um ihre Rechte an einem Text ging. Dennoch würde sie es schlimm finden, wenn es die ArbeitnehmerInnenorganisationen nicht mehr gäbe. «Wir leben ja in einer Abhängigkeit, weil wir uns ernähren müssen. Die Gewerkschaft hilft uns beim Verständnis unserer Rechte und der Gesetzestexte. Es ist gut zu wissen, dass wir sie im Rücken haben.»

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