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«Wir müssen mitreden»

Hilfsarbeit für Roboter, digitaler Taylorismus, Schwächung des kollektiven Handelns, Konkurrenz aller mit allen: Üble Folgen digitalisierter Arbeit gibt es viele. Christophe Degryse, Forscher am Brüsseler Gewerkschaftsinstitut ETUI, sucht Abhilfe.

 

syndicom: Sie haben eine Studie über die sozialen Folgen der Digitalisierung in der Arbeitswelt veröffentlicht. Wie sind Sie vorgegangen?

Christophe Degryse: Ich habe versucht, anhand der Literatur zu diesem Thema die wichtigsten Aspekte für die Arbeitswelt und die Gewerkschaftsbewegung herauszuarbeiten. Denn wir müssen die Möglichkeiten erkennen, die sich auftun. Und wir müssen die Folgen sehen, welche die digitale Wirtschaft und die Internet-Plattformen für den Arbeitsmarkt, die Stellung der Arbeitnehmenden, die Arbeitsbedingungen und die Ausbildung haben.

Weshalb ist die Digitalisierung in letzter Zeit dermassen in den Fokus gerückt?

Wegen der Prophezeiung, dass bis in 20 oder 30 Jahren rund 40 bis 50 Prozent der Arbeitsplätze durch diese neuen ­Technologien gefährdet seien. Als ob diese Technologien ganz von alleine und unabwendbar Arbeitsplätze zerstören würden! Man kann nicht einfach davon ausgehen, dass der technologische Fortschritt bestimmt, was in den kommenden Jahren geschehen wird. Verschiedene wissenschaftliche AutorInnen machen auf diesen Techno-Determinismus aufmerksam.

Wir können also Einfluss nehmen?

Nicht die Technologie wird den Arbeitsmarkt in die eine oder andere Richtung führen, sondern die Unternehmer, die Verantwortlichen für die Produktionsprozesse, die Arbeitenden und ihre Gewerkschaften. Aber auch das politische, regulatorische und steuerliche Umfeld. Wir kämpfen nicht gegen die Technologie und das Internet, sondern wir müssen die Kontrolle über die Entwicklung behalten.

Nichts ist alternativlos ...

Genau! Einige Staaten – Frankreich, Deutschland, ­Schweden – haben Studiengruppen zur Zukunft von Industrie und Dienstleistungen eingerichtet. Sie suchen nach Antworten auf die Frage: Wie kann man die Technologie in den Dienst der Gesellschaft stellen?

Der Holländer Robert Went etwa hat für die Niederlande eine Studie über «Inklusive Robotisierung» durchgeführt. Er zeigt, dass die Robotisierung in den Dienst eines Produktionsprozesses gestellt werden kann, der die arbeitenden Menschen einschliesst und nicht ausschliesst. Andere AutorInnen zeigen, wie in Deutschland in den Betriebsräten mit der Gewerkschaft über Roboter diskutiert wird, damit man diese als Unterstützung und nicht als Ersatz für die Menschen einführen kann.

Wo müssen die Gewerkschaften wachsam bleiben?

Die Robotisierung z. B. muss mit den Arbeitnehmerorganisationen umgesetzt werden. Und mit der neuen Internet-Plattform-
Arbeit sind wir dann in einer komplett anderen Welt, einer desorganisierten Welt. In einer Art informellem Arbeitsmarkt, parallel zum regulären Arbeitsmarkt. Hier haben wir es zu tun mit der Uberisierung, einer vertragslosen Form von Arbeit, mit der Prekarisierung von Arbeitenden, die Kleinstaufträge ausführen. Es gibt hier enorm viel zu tun für eine gewerkschaftliche Organisation, auch auf politischer Ebene bei der Regulierung im sozialen oder steuerlichen Bereich.

Die Plattform-Ökonomie ist die Hauptsorge der Gewerkschaften?

Das ist so. Dieser völlig deregulierte parallele Arbeitsmarkt auf «Plattformen», bei denen niemand rechtliche oder soziale Verantwortung trägt und Arbeitnehmende in Crowdworking zu weltweiten Konkurrenten werden, ist besorgniserregend.

Plattformen wie Upwork, Amazon oder Mechanical Turk ermöglichen den Unternehmen, die Arbeit oder den Produktionsprozess in kleinste, simple und repetitive Aufträge zu zerlegen, die dann der «Gemeinschaft» der Crowdworker angeboten werden. Das ist digitaler Taylorismus.

Können sich digitale Proletarier nicht auch organisieren?

In der Tat. Im Europäischen Gewerkschaftsinstitut wird sich demnächst ein Netzwerk von Forschern mit Ansätzen dazu beschäftigen. In Deutschland etwa organisiert die IG Metall ­vorbildhaft die Crowdworker über die Webseite FairCrowdWork. Es soll untersucht werden, wie dies auf andere Länder übertragen werden könnte. Wir stehen noch am Anfang dieser Überlegungen.

Digitalisiertes Management bietet auch mehr Möglichkeiten zur Kontrolle der Arbeit.

Wir werden sicher stärker überwacht, als wir denken! In den USA beispielsweise nimmt die «grenzenlose Überwachung» der Arbeitnehmenden stark zu, manchmal sogar im Privatleben. Es wird sich eine Rechtsprechung entwickeln, die in den USA und in Europa wohl nicht gleich ausfallen wird. Auch in dieser Diskussion kann die Gewerkschaftsbewegung ihren Einfluss geltend machen.

Soll man sich eher an die optimistischen oder an die pessimistischen Aussichten halten?

Ich höre oft, dass ich zu pessimistisch sei. Mir geht es darum, die Gefahren aufzuzeigen, auf die in den jüngsten Studien hingewiesen wird. Die Digitalisierung wird Arbeitsplätze schaffen, verlagern, verwandeln und zerstören. Ich sage nicht, dass alles unbedingt eintreten wird. Aber es sind Entwicklungen, auf die sich die Gewerkschaftsbewegung vorbereiten muss.

Die Gefahren sind vielfältig: schwindender Mittelstand, mehr niedrige Einkommen, ein neuartiger globalisierter und deregulierter Arbeitsmarkt, Arbeitnehmende als einfache Handlanger des Roboters und seiner Algorithmen, Schwächung des kollektiven Handelns und der Arbeitsbeziehungen, unzureichende Ausbildungen und Qualifikationen, Lohnstagnation, Verstärkung der Ungleichheiten ...

Es droht also eine Polarisierung im Arbeitsmarkt?

Ja. Für eine Minderheit bedeutet die Digitalisierung mehr Freiheit, Zusammenarbeit und Austausch. Für alle anderen droht Versklavung, gnadenlose Konkurrenz und akute Prekarisierung. Für die Gewerkschaften ist es deshalb zentral, diese Gefahren zu bekämpfen und unbedingt zu verhindern.

Was können die Gewerkschaften konkret tun?

Es braucht einen Dialog mit allen Wirtschaftsakteuren, wie es in Deutschland mit der Initiative «Industrie 4.0» und dem Kapitel zur Beschäftigung, «Arbeiten 4.0», der Fall ist. Da gibt es einen klaren Willen, die Sozial­partner in diesen Prozess einzubeziehen. In einem Land wie Belgien hingegen gibt es keinerlei öffentliche Debatten darüber. Deutschland ist in gewisser Weise ein Vorbild.

Die IG Metall hat ihre Prioritäten definiert: soziale Rechte der Arbeitnehmenden in der digitalen Arbeitswelt garantieren, Technik und Organisationsgestaltung aktiv beeinflussen, den Schwerpunkt auf Fragen der Berufsausbildung und der Weiterbildung legen.

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