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Wann ist eine Gratifikation geschuldet?

Ich arbeite seit fünf Jahren bei meinem jetzigen Arbeitgeber. Jeweils mit dem Dezemberlohn wurde mir unter dem Titel „Gratifikation“ ein zusätzlicher Monatslohn ausbezahlt. Damit habe ich immer einen Teil meiner Steuern und die Weihnachtsgeschenke meiner Kinder bezahlt. Dieses Jahr blieb die Auszahlung der Gratifikation ohne Vorankündigung aus. Auf meine Nachfrage hin begründete mein Chef dies mit dem schlech-ten Geschäftsgang unseres Betriebes. Kann ich dagegen etwas unternehmen?

Es besteht ein klarer Unterschied zwischen einem 13. Monatslohn und einer Gratifikation. Beim 13. Monatslohn handelt es sich um einen festen Lohnbestandteil, der unabhängig vom Betriebsergebnis oder den individuellen Leistungen des/der Arbeitnehmenden neben dem eigentlichen Grundlohn geschuldet wird. Der Unterschied zum Grundlohn besteht einzig darin, dass der 13. Monatslohn nicht monatlich sondern in der Regel mit dem Dezemberlohn fällig wird. Der Anspruch auf einen 13. Monatslohn ergibt sich jedoch nicht direkt aus dem Gesetz sondern muss im Einzelarbeitsvertrag, in allgemeinen Anstellungsbedingungen oder in einem Gesamtarbeitsvertrag geregelt sein. Dies ist unter anderem in den Gesamtarbeitsverträgen der Post (GAV Post und GAV KG), dem Gesamtarbeitsvertrag Swisscom und dem Gesamtarbeitsvertrag für die Grafische Industrie der Fall. Der 13. Monatslohn wird auch nach einer Kündigung – allenfalls anteilsmässig (pro rata temporis) – unabhängig vom Aus-trittsgrund immer geschuldet. Im Fall einer Kündigung ist der Anteil des 13. Monatslohnes nicht erst im Dezember sondern mit dem letzten Lohn auszubezahlen.

Bei der Gratifikation handelt es sich dagegen um eine Sondervergütung, die im Voraus weder beziffert noch bestimmbar ist. Sie hängt allein vom Ermessen des Arbeitgebers ab und wird bei bestimmten Anlässen (zum Beispiel zu Weihnachten, oder bei einem hervorragenden Geschäftsergebnis) zusätzlich zum Grundlohn ausbezahlt. Es handelt sich bei der Grati-fikation also um keinen festen Lohnbestandteil sondern um eine eigentliche freiwillige Leistung des Arbeitgebers. Eine Einschränkung ergibt sich jedoch aus dem Willkürverbot. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber nicht willkürlich einzelne Mitarbeitende diskriminieren darf. Wenn grundsätzlich alle Mitarbeitenden eine Gratifikation bekommen, darf nicht einer einzi-gen Arbeitnehmerin ohne sachlichen Grund keine ausbezahlt werden. Die Gratifikation kann ebenfalls vertraglich vereinbart werden (Art. 322d OR). In diesem Fall müssen die Voraus-setzungen, unter denen sie ausbezahlt wird, genau definiert sein.

Wenn die Gratifikation über längere Zeit ohne Vorbehalt immer und in der gleichen Höhe mit dem Dezemberlohn ausbezahlt worden ist, wird sie ebenfalls zum festen Lohnbestandteil, der wie ein Grundlohn geschuldet wird.  Bezahlt der Arbeitgeber – so hat die Rechtssprechung entschieden – dreimal ununterbrochen in Folge der/dem Arbeitnehmenden eine Gratifikation aus, ohne dabei jeweils ausdrücklich auf die Freiwilligkeit seiner Leistung hinzuweisen, so geht er damit die Verpflichtung ein, eine solche der/dem betreffenden Arbeitnehmenden auch künftig auszubezahlen.

In deinem konkreten Fall kann der Arbeitgeber nach fünf Jahren die Auszahlung der sog. Gratifikation also nicht mehr vom Betriebsergebnis abhängig machen. Du kannst diesen Monatslohn einklagen, da er zu einem festen Lohnbestandteil geworden ist, und du damit einen Rechtsanspruch auf die Auszahlung hast.

Bernadette Häfliger Berger
lic. iur., Rechtsanwältin

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