Der Bessemer-Effekt und der Bumerangeffekt

Im April stimmten die Angestellten im Amazon-Verteilzentrum in Bessemer, Alabama, gegen die Bildung einer Gewerkschaftsvertretung im Unternehmen. Und dennoch könnte das Ergebnis paradoxerweise die Entschlossenheit der Arbeitnehmenden und Gewerkschaftsmitglieder weltweit stärken. Das glaubt Christy Hoffman, Generalsekretärin von UNI Global Union, der internationalen Föderation der Gewerkschaften der Dienstleistungsbranche. In diesem Interview erklärt sie, wie die Logistikkonzerne die Technologie des 21. Jahrhunderts nutzen, um brutale Produktionsregimes wie im 19. Jahrhundert durchzusetzen. Diesen Bumerang müssen wir aufhalten.
 

Christy Hoffman, was waren Ihre Gefühle angesichts der Niederlage der Amazon-Beschäftigten in Alabama?

Es war keine Niederlage. Wir haben immer gesagt, dass die Angestellten unabhängig vom Ergebnis der Abstimmung bereits gewonnen haben. Diese fand in einem besonders harten und schwierigen Umfeld statt. Wenn die Stimmen mitgezählt werden, die Amazon unterschlagen hat, stimmten über tausend Personen für die Gewerkschaft. Das ist ein hervorragendes Ergebnis!

Auf der Website von UNI Global Union war die Rede von einem positiven «Bessemer-Effekt». Was ist das?

Erstmalig wurde an einem Amazon-Standort in den USA über eine Gewerkschaftsbildung abgestimmt. Der Weg ist nun frei für weitere Abstimmungen. Und ein nächstes Mal könnten wir gewinnen. Ausserdem hat die Kampagne international grosse Aufmerksamkeit erlangt, unsere Hoffnungen genährt und unsere Entschlossenheit verstärkt. Die Wahl in Bessemer hat die missbräuchlichen Praktiken des Konzerns zutage gebracht. Die Gewerkschaftsbewegung ist heute so geeint wie nie zuvor im Bestreben, Amazon zur Verantwortung zu ziehen. Die Amazon-Beschäftigten weltweit haben sich in den letzten Monaten mobilisiert. In Deutschland, Italien und Frankreich wurde gestreikt, in Grossbritannien wurde eine neue Kampagne gestartet. Jetzt will Amazon die Löhne einer halben Million seiner Angestellten erhöhen. Ist das ein Zufall? Ich glaube nicht.

Reicht die Lohnerhöhung aus?

Wir begrüssen jede Lohnerhöhung, die Amazon-Beschäftigten haben das verdient. Aber das löst nicht das Problem, dass sie einen Platz am Tisch fordern, um über Löhne, Gesundheit und Sicherheit, Produktionsziele und eine bessere Zukunft für ihre Familien zu verhandeln. Amazon muss jetzt lernen, dass Tarifverhandlungen ein wesentliches Instrument sind, das moderne Unternehmen und die Gesellschaft nutzen, um ihr Geschäftsmodell verantwortungsvoller und demokratischer zu machen.

«Die elektronische Überwachung ist verheerend für die Gesundheit der Angestellten.»

Amazon hat seine unbeschränkten Mittel eingesetzt, um die Beschäftigten zu beeinflussen. Aber was können sich die Gewerkschaften zum Vorwurf machen?

Man kann nicht das Opfer eines wahrhaft archaischen Systems der Arbeitsbeziehungen, das die Unternehmen bevorteilt, beschuldigen. Lassen Sie mich erklären: Als amerikanische Gewerkschafterin, die seit Jahren auf internationaler Ebene arbeitet, habe ich unter anderem etwas gelernt: Es ist schwierig, Kolleg*innen in Europa verständlich zu machen, wie brutal die antigewerkschaftlichen Kampagnen der amerikanischen Konzerne sind.

Drohungen, Lügen, Nötigungen und Spaltungstaktiken, basierend auf individuellem Profiling, sind an der Tagesordnung. Millionen Dollar von amerikanischen Unternehmen fliessen in eine auf gewerkschaftsfeindliche Aktivitäten spezialisierte Branche, in der Experten für psychologische Kriegführung mit grenzwertigen Methoden agieren.
 

«Wir dürfen nicht zulassen, dass eine Handvoll Unternehmen den Handel, die Informationsinfrastuktur und unsere Daten kontrollieren. Das ist eine grosse und unmittelbare Gefahr für unsere Gesellschaft.»


Amazon hat seine unbegrenzten Ressourcen eingesetzt, um einige der unerbittlichsten Gewerkschaftsbrecher zu engagieren. Nur damit man sich nicht mit den Angestellten an den Verhandlungstisch setzen muss. Die Welt soll erfahren, was Amazons Versuche zur Untergrabung der Demokratie am Arbeitsplatz eigentlich sind: eine Rückkehr in brutale feudalistische Verhältnisse!

Ist Amazon ein Versuchslabor für neue Arbeits- oder Überwachungsmethoden, die künftig auch in anderen Unternehmen eingesetzt werden könnten?

Es ist kein Labor mehr, sondern bereits traurige Realität. Die Arbeit im digitalen Unternehmen Amazon ist für die Angestellten eine besondere Herausforderung: Mit ausgefeilten Technologien werden sie überwacht und zu grösserer Produktivität getrieben. Mit diesen Instrumenten des 21. Jahrhunderts wird ein brutales Produktionsregime wie aus dem 19. Jahrhundert eingeführt. Ein Regime, das den Arbeitnehmenden immens grossen Schaden zufügt. Amazons Überwachungs- und algorithmische Managementsysteme wirken sich nachweislich verheerend auf die Gesundheit der Beschäftigten aus. Letztes Jahr hat eine Reihe von Leaks zu Amazons Sicherheitsmassnahmen auch gezeigt, dass eine weltweite Überwachungskampagne gegen Angestellte, Gewerkschaftsmitglieder und weitere Gruppen der Zivilgesellschaft betrieben wird.

Glauben Sie, dass es künftig auch in Europa solche auf die Bekämpfung von Gewerkschaftsaktivität spezialisierte Unternehmen geben wird?

Ich glaube nicht! Solche Aktivitäten dürften in Europa einfach illegal sein. Ich möchte aber betonen, dass sich Amazon in den letzten 25 Jahren an allen seinen Standorten, auch in Europa, extrem gewerkschaftsfeindlich gezeigt hat, mit oder ohne solche Union-Buster- Consultants.

Wie wichtig war die gewerkschaftliche Mobilisierung in den USA für die Beschäftigten in Europa?

Die Amazon-Angestellten in Europa wissen, dass eine organisierte Belegschaft in den USA ein Durchbruch wäre. Jeder Schritt in diese Richtung weckt Hoffnung und inspiriert. Denn die Beschäftigten ausserhalb der USA unternehmen zwar alles, um Amazons Geschäftsmodell und Unternehmenskultur zu ändern. Dieser Kampf wird aber schwierig bleiben, solange das Modell Amazon auf der uneingeschränkten Macht des Managements beruht, die Regeln festzulegen.

Amazon bietet immer mehr Dienste für Dritte an. Was bedeutet diese neue Tendenz, Outsourcing-Dienstleistungen über die Verkaufsplattform hinaus (künftig vielleicht auch für den Service public) anzubieten, für die Wirtschaftsstruktur und die betroffenen Branchen?

Es ist eine Monopol- und Machtfrage. Die Entstehung digitaler Monopole verschärft die bestehenden Probleme zusätzlich. Wir dürfen nicht zulassen, dass eine Handvoll Unternehmen den Handel, die Informationsinfrastuktur und unsere Daten kontrolliert. Das ist eine grosse, unmittelbare Gefahr für unsere Gesellschaft. Die Macht dieser Konzerne wirft eine Reihe Fragen nicht nur für die Arbeitnehmenden, sondern auch für die übrigen gesellschaftlichen Akteure auf. Ich spreche von KMUs, Buchhandlungen, Verfechtern von Verbraucherrechten und Datenschutz, Lieferanten und Detailhändlern.

Ist diese Dynamik unaufhaltbar?

Nein. Wir sehen bereits positive Zeichen. Die Europäische Union hat Kartellverfahren gegen Amazon eingeleitet. Das Unternehmen soll die Daten der Verkäufer auf seiner Plattform genutzt haben, um sich unfaire Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Dieser Vorwurf ist schwerwiegend, und Amazon muss sich nun verantworten.


Federico Franchini, das Interview ist erschienen im syndicom-Magazin Nr. 23

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