Die EU misst mit zweierlei Mass

Zum Schutz der Beschäftigten innerhalb ihrer Grenzen erlässt die Europäische Union eine Richtlinie. Für die in die Schweiz entsandten Arbeitnehmenden will sie die Gleichbehandlung aber nicht gelten lassen. Das war einer der Gründe für den Abbruch der Verhandlungen zum Rahmenabkommen Schweiz–EU. Wir sprachen darüber mit Luca Visentini, Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbundes (ETUC.org).
 


War der Schweizer Verhandlungsabbruch für Sie – von der europäischen Warte aus – überraschend?

Er kam zugegebenermassen etwas überraschend. Ich dachte nicht, dass die Schweiz so stark an ihrer Position festhalten und die Verhandlungen abbrechen würde – für mich der richtige Entscheid.

Also eine positive Überraschung?

Ja. Den Verhandlungen, die falsch aufgegleist waren, wurde ein Ende gesetzt. Von Seiten der EU habe ich nie einen echten Willen gespürt, auf bestimmte kritische Punkte einzugehen, insbesondere nicht auf die Arbeitsbedingungen und die flankierenden Massnahmen. Deshalb befürchtete ich, dass die Schweizer Regierung den starken Druck der EU hinnehmen würde.
 

Die Schweizer Gewerkschaften wurden erpresst, damit sie auf die Flankierenden verzichten.


Welche Rolle spielte die Schweizer Gewerkschaftsbewegung?

Die Entscheidung des Bundesrates war schliesslich sicher auch auf die entschlossene Haltung der Gewerkschaften zurückzuführen. Diese haben sich auch mit unserer Unterstützung ungewöhnlich stark mobilisiert, um Entscheidungen zu verhindern, die für die Arbeitnehmenden sehr nachteilig gewesen wären.

Der EGB hat die kompromisslose Position der Schweizer Gewerkschaften in der Frage des Lohnschutzes wiederholt unterstützt. Weshalb war die Unterstützung der Schweizer Kolleg* innen aus Sicht der europäischen Gewerkschaftsbewegung wichtig?

Wir erachten die in der Schweiz existierenden flankierenden Massnahmen als sehr positiv. Sie schützen die Interessen der Arbeitnehmenden sowie die Arbeits- und Lohnbedingungen und garantieren den Sozialschutz. Vor allem aber gewährleisten sie die Gleichbehandlung der Schweizer Arbeitskräfte und der europäischen Arbeitnehmenden, die in der Schweiz tätig sind. Für uns war die Verteidigung dieser flankierenden Massnahmen eine Art von symbolischem Kampf. So konnten wir bekräftigen, dass es immer und überall Gleichbehandlung und faire Arbeits- und Sozialschutzbedingungen braucht.

Die Schweiz hat während der Verhandlungen zwar nicht brilliert (ich denke etwa an Ignazio Cassis, der bereit war, die flankierenden Massnahmen auf den Verhandlungstisch zu legen). Wie beurteilen Sie die Arbeit der Europäischen Union?

Wir haben uns sehr geärgert über die widersprüchliche, ja schizophrene Haltung der EU. Wir konnten diese Vorgehensweise nicht akzeptieren. Die EU hat ihre Entsenderichtlinie überarbeitet. Deren zentrales Element besteht gerade darin, dass die Lohngleichheit garantiert wird und Lohndumping und unfairer Wettbewerb auf Kosten der innerhalb der EU entsandten Arbeitnehmenden beseitigt werden. Europa hat also den Grundsatz der Gleichbehandlung intern angewendet. Deshalb finde ich es widersinnig, dass die EU nun im Rahmen des Abkommens mit der Schweiz diesen Grundsatz ignorieren will.

Existiert das Schreckgespenst des «polnischen Klempners» in der EU weiterhin?

Die Situation hat sich sicherlich verbessert. Vor allem dank dieser Richtlinie und der Schaffung der Europäischen Arbeitsbehörde. Dies ist bei der Überwachung und Sanktionierung der Verstösse sehr hilfreich. Der unfaire Wettbewerb zwischen den Arbeitnehmenden ist Vergangenheit. Das heisst nicht, dass alles perfekt ist. Es gibt noch
viele Verstösse, vor allem in Bereichen wie der Transportbranche. Und die Gleichbehandlung in Bezug auf die soziale Sicherheit ist auch noch nicht erreicht.

Wie lässt sich diese widersprüchliche Haltung der EU erklären?

Sie ist darauf zurückzuführen, dass die Entsenderichtlinie und das Rahmenabkommen mit der Schweiz nicht von derselben Stelle innerhalb der EU ausgehandelt wurden. Das eine Dossier wurde von der Generaldirektion Beschäftigung und Soziales erarbeitet, die dem Schutz der Arbeitnehmerrechte eine grosse Bedeutung beimisst. Auf der anderen
Seite war die Rolle der Generaldirektion Handel (GD Handel) bei der Aushandlung des Abkommens mit der Schweiz sehr negativ.

Welchen Einfluss hatten die europäischen Arbeitgeber auf die GD Handel?

Diese spielten eine sehr wichtige und sehr negative Rolle. Die Arbeitgeberorganisationen übten äusserst grossen Druck aus. Sie haben die Reform der Entsenderichtlinie nie überwunden und versuchten alles, um sie zu blockieren. Glücklicherweise ist ihnen das nicht gelungen. Für diese Niederlage wollten sie sich rächen und deshalb wenigstens in der Schweiz Lohn- und Sozialdumping praktizieren. Ausserdem werden solche Verhandlungen hinter verschlossenen Türen geführt, auf Beamtenebene und ohne wirklichen Prozess der demokratischen Kontrolle. In diesem Fall waren es die Beamten der GD Handel, die unter dem Einfluss der Unternehmen stehen und versuchen, vor allem deren
Geschäftsinteressen zu schützen.
 

«Wir hoffen, dass wir nach einigen Überlegungen so rasch wie möglich mit Vorschlägen an den Verhandlungstisch zurückkehren können und die Verhandlungen mit positiveren Vorzeichen neu beginnen können. Bis dahin müssen die bisherigen Standards unbedingt eingehalten werden.» 


Das Scheitern der Verhandlungen über das Rahmenabkommen hat jedoch auch die Ausweitung bestimmter Rechte verhindert, die für die (europäischen) Wanderarbeitenden in der Schweiz von Vorteil gewesen wären. Ich denke an die Unionsbürgerschaft. Diese ist einer der Verhandlungspunkte, die von der Rechten hartnäckig bekämpft werden. Hätten die Gewerkschaften nicht weitere Kompromisse für ein soziales Abkommen eingehen können?

Wir haben die Verhandlungen eng verfolgt. Und ich kann sagen, dass die Schweizer Gewerkschaften eine grosse Bereitschaft zeigten, bei der Auslegung der Modalitäten der flankierenden Massnahmen den bürokratischen Aufwand für die Unternehmen möglichst gering zu halten. Das Problem war, dass sie erpresst wurden: Im Gegenzug zu
positiven Massnahmen wie der Unionsbürgerschaft hätten sie die flankierenden Massnahmen aufgeben müssen. Ganz zu schweigen von den bereits erwogenen wirtschaftlichen Vergeltungsmassnahmen. Die Gewerkschaften blieben sehr offen, standen aber einer geschlossenen und erpresserischen Gegenseite gegenüber.

Wie kann die Gewerkschaftsbewegung dazu beitragen, Europa und die Schweiz aus dieser Sackgasse herauszuführen und einander wieder näher zu bringen?

Wir stehen in ständigem Kontakt mit unseren Schweizer Kolleg*innen und üben Druck auf die Europäische Kommission aus, damit diese das Dossier mit einer offeneren und fortschrittlicheren Haltung neu angeht. Wir versuchen zum Beispiel, Druck auf die GD Beschäftigung auszuüben, damit sie sich aktiver und massgeblicher in diese Diskussion einbringt. Wir müssen ein Gegengewicht zum ultra-neoliberalen Ansatz der GD Handel schaffen.


Federico Franchini, das Interview ist erschienen im syndicom-Magazin Nr. 24

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