Interview mit Bundesrat Alain Berset

«Es steht viel auf dem Spiel»

TZ: Bundesrat Alain Berset, weshalb sollen die Arbeitnehmenden einer Vorlage zustimmen, die mit Frauenrentenalter 65 und einer Senkung des Mindestumwandlungssatzes Massnahmen bringt, die das Volk in der Vergangenheit abgelehnt hat? 

AB: Ganz einfach, weil erstmals seit zwanzig Jahren eine ausgewogene Gesamtlösung vorliegt, die für sichere Renten und ein stabiles Rentenniveau sorgt und die erwähnten Massnahmen kompensiert. In der obligatorischen beruflichen Vorsorge wird die Rentensenkung für fast alle ausgeglichen. Die 44-65-Jährigen erhalten gar eine Besitzstandgarantie. Den Jüngeren hilft der AHV-Zuschlag, das Rentenniveau zu halten. 2010 bei der letzten Abstimmung über eine Senkung des Mindestumwandlungssatzes gab es dagegen überhaupt keine Kompensation.

Und beim Frauenrentenalter 65?
Anders als 2004 gibt es für Frauen diesmal zahlreiche Verbesserungen. Vor allem beim Rentenniveau. Mit der Altersvorsorge 2020 wird Teilzeitarbeit in der zweiten Säule besser versichert. Davon profitieren vor allem Frauen. Ihre Pensionskassenrenten betragen nämlich im Schnitt nur etwas mehr als ein Drittel einer Männerrente. Dank der Altersvorsorge 2020 werden ihre Pensionskassenrenten deutlich steigen. Der AHV-Zuschlag wiederum hilft insbesondere den 500‘000 erwerbstätigen Frauen, die nur bei der AHV versichert sind und deshalb bislang nur auf bescheidene Renteneinkommen Anspruch haben. Ich finde es in diesem Zusammenhang stossend, dass es Leute gibt, die den AHV-Zuschlag als kleines „Zückerchen“ bezeichnen. Diese Leute verkennen, dass 70 Franken mehr pro Monat bei einer alleinstehenden Frau im Pensionsalter dafür entscheidend sein können, ob einmal ein Ausflug mit ihren Freundinnen drinliegt oder nicht.. 

Trotzdem, hätten Sie als SP-Bundesrat die Erhöhung des Frauenrentenalters nicht grundsätzlich verhindern müssen?
Die zentrale Frage der Altersvorsorge ist, was die Leute am Ende des Monats im Portemonnaie haben. Denn sie leben nicht von Prozenten, sondern von Franken und Rappen. Die meisten Frauen leben im Alter hauptsächlich von der AHV. Wenn sie eine Pensionskassenrente haben, ist sie meist tief. Deshalb sind wir die Probleme der AHV und der obligatorischen beruflichen Vorsorge gleichzeitig angegangen. Das hatten auch die Gewerkschaften und die Linke gefordert. Nun liegt eine fein austarierte Lösung vor. Man kann nun nicht am Ende eine einzelne Massnahme herausbrechen und sagen, so geht es nicht. Das ist nicht ehrlich. Die Gesamtlösung muss beurteilt werden. Und es wäre ein Fehler, jetzt auf die zahlreichen Verbesserungen für die Frauen zu verzichten. Das wäre nicht nachhaltig.

Die bürgerlichen Reform-Gegner sagen, dass die Vorlage nicht nachhaltig ist und die AHV wegen des AHV-Zuschlags in Schieflage gerät.
Das ist schlicht falsch. Scheitert die Reform, wird die AHV im Jahr 2030 ein jährliches Defizit von 7 Mrd. Franken schreiben. Der AHV-Fonds wäre dann fast leer. Die Renten wären nicht mehr gesichert. Wird die Altersvorsorge 2020 angenommen, schreibt die AHV schwarze Zahlen und der Fonds wird 2030 immer noch fast so gut gefüllt sein wie heute – trotz AHV-Zuschlag und höheren Ehepaar-Renten. Es ist unverständlich, dass die Gegner der Altersvorsorge 2020 eine leere AHV-Kasse in Kauf nehmen. Jemand würde das bezahlen müssen.

Aber der AHV-Zuschlag ist ja nicht gratis.
Er ist bis 2039 voll finanziert. Die dafür notwendigen Lohnpromille (je 0,15% für Arbeitgeber und Arbeitnehmer; Anm. der Redaktion) generieren bis dann genauso viel Geld, wie für die AHV-Verbesserungen nötig sind. Nebenbei gesagt: Mit dieser Finanzierung wird dafür gesorgt, dass nur jene zahlen, die später auch davon profitieren. Heutige Rentnerinnen und Rentner bezahlen dafür nichts.

Sie bezahlen aber wie alle anderen ab 2021 zur Finanzierung der AHV 0,3 Prozent mehr Mehrwertsteuer.
Diese leichte Erhöhung der Mehrwertsteuer ist nötig, wegen den in Rente kommenden Babyboomern. Die AHV braucht diese zusätzlichen Mittel für die laufenden und kommenden Renten. Daher beteiligt sich hier auch die heutige Rentnergeneration. Alle müssen einen Beitrag für sichere Renten leisten. Der Preis ist aber bescheiden, wenn man bedenkt, dass damit die AHV-Renten auch in Zukunft nicht nur sicher ausbezahlt sondern auch weiterhin der Teuerung angepasst werden.

Zurück zum AHV-Zuschlag. Die bürgerlichen Reform-Gegner sagen, dass deswegen die Vorlage für die junge Generation unfair geworden sei.
Unfair ist für die Jungen die heutige Situation. Weil die Renten der beruflichen Vorsorge nicht korrekt finanziert sind, werden heute gut 1,3 Mrd. Franken von den Aktiven zu den Rentnern umverteilt. Andere Schätzungen gehen sogar von noch höheren Beträgen aus. Diese ungerechte Umverteilung wird mit der Reform zu einem guten Teil korrigiert. Wenn wir nichts unternehmen, geht diese Umverteilung dagegen weiter. Ausserdem gehen in der AHV die Baby-Boomer nun in Rente. Wenn wir nichts unternehmen, schlittert die AHV in riesige Finanzierungsprobleme. Die junge Generation müsste zwar weiter einzahlen. Das Versprechen, einmal eine Rente zu erhalten, können wir ohne Reform aber nicht mehr garantieren. Ich betone: Der Status Quo ist für die Jungen am schlimmsten. Sie haben deshalb ein grosses Interesse, dass die Altersvorsorge 2020 gutgeheissen wird.

Economiesuisse, Arbeitgeber, Gewerbeverband, FDP und SVP bekämpfen die Altersvorsorge 2020 genauso wie Linksaussen-Parteien und gewisse GewerkschaftsvertreterInnen aus der Romandie. Beunruhigt Sie diese breite Allianz nicht? 
Wenn gleichzeitig Kreise rechts- und linksaussen aus diametral entgegengesetzten Gründen dagegen sind, haben wir offensichtlich einen Mittelweg gefunden. Wir haben in sieben Jahren einen echt schweizerischen Kompromiss ausgehandelt, der die Renten sichert und auch Fortschritte bringt. Jetzt muss man ja oder nein sagen. Man soll sich aber bewusst sein, dass bei Ablehnung kein einziges Problem gelöst wird. Diese werden sich einfach verschärfen.

Economiesuisse&Co. sagen, eine bessere in kleinere Pakete aufgeteilte Reform wäre rasch möglich.
Das bezweifle ich. Die bürgerlichen Reform-Gegner wollten im Parlament bis in der letzten Verhandlungswoche einen Automatismus für Rentenalter 67 durchsetzen. Die linken Gegner sehen dagegen gar keinen Handlungsbedarf, weder beim Rentenalter noch bei der Finanzierung. Ein Nein würde deshalb sehr widersprüchliche Signale aussenden. Ausserdem sind separate Reformen in den letzten 20 Jahren gescheitert. Wenn es eine bessere mehrheitsfähige Lösung wirklich gäbe, so hätte sich diese durchgesetzt. 

Kann man mit dem Kompromiss-Argument diese Abstimmung gewinnen?
Es ist ja nicht das einzige gute Argument! Sichere Renten, eine Stabilisierung sowohl der AHV als auch der obligatorischen beruflichen Vorsorge, Verbesserungen für die Frauen und für ältere Arbeitslose sind alles gute Gründe, Ja zu sagen. Dennoch ist das Kompromiss-Argument wichtig. Unser Staat mit seiner vielfältigen Kultur und seinen vier Sprachen gründet auf dem Gedanken des Ausgleichs, des Gebens und Nehmens. Es gibt keine Mehrheit in diesem Land, sondern nur immer verschiedene Minderheiten, die sich zu einer Mehrheit finden. In der Schweiz gibt es kein „Alles oder Nichts“, sonst wäre sie wahrscheinlich schon lange auseinandergefallen. Das wissen die Leute, und darum ist der Kompromiss die Basis unserer demokratischen Entscheidfindung geworden. Wenn die Leute die Vorlage studieren, sehen sie auch, dass sich das Geben und Nehmen lohnt. Es steht viel auf dem Spiel. Denn es geht um unser wichtigstes Sozialwerk und um den Generationenvertrag. Niemand hat ein Interesse daran, das an die Wand zu fahren.

Westschweizer Linke argumentieren, dass ein Ja der erste Schritt zu Rentenalter 67 ist.
Die Arbeitgeber und bürgerliche Parteien fordern seit langem Rentenalter 67. Die Realität darf aber nicht ausgeblendet werden. Der Arbeitsmarkt erlaubt zurzeit kein Rentenalter 67. Ältere haben es bereits heute schwer, eine Stelle zu finden. Und in gewissen Branchen können die Menschen aus gesundheitlichen Gründen nicht über 65 hinaus arbeiten. Wichtig ist zuerst, das reale Rentenalter zu erhöhen. Es beträgt heute für Frauen etwas über 62 und für Männer etwas über 64 Jahre. Dazu flexibilisieren wir das Rentenalter. Die Rahmenbedingungen für jene, die länger arbeiten können und wollen, werden verbessert. Jene aber, die nicht bis 65 arbeiten können, werden bei der AHV weniger Leistungskürzungen erleiden als heute.


Thomas Zimmermann, SGB
Porträts von Nicolas Brodard

Informiert bleiben

Persönlich, rasch und direkt

Du willst wissen, wofür wir uns engagieren? Nimm Kontakt zu uns auf! Bei persönlichen Anliegen helfen dir unsere Regionalsektretär:innen gern weiter.

syndicom in deiner Nähe

In den Regionalsekretariaten findest du kompetente Beratung & Unterstützung

Jetzt Mitglied werden