«Wir sind die Rückendeckung für die Kolleg:innen»
19 Jahre standen sie gemeinsam hinter dem Schalter der Poststelle im Genfer Quartier Eaux-Vives. Jetzt ist Odile Gainon frisch pensioniert und hat ihre Funktion als Vertrauensperson an Laure Di Luzio übergeben. Was motiviert sie? Ihr Möglichstes zu tun für die Kolleg:innen!
Text: Muriel Raemy
Foto: Jean-Patrick Di Silvestro

1200 Genève 6. Odile Gainon nennt die exakte Postleitzahl der Filiale Eaux-Vives, wo sie mehr als 35 Jahre arbeitete. Sie verweist auf ihre Anfangszeit bei der Post: «Die Ausbildung war intensiv, wir mussten alle Postleitzahlen der Schweiz kennen. Sie haben sich ins Gedächtnis eingegraben, eine Art Berufskrankheit!» «Wir mussten auch alle Bahnverbindungen und Fahrpläne lernen», erinnert sich Laure Di Luzio, die 1997 als Postassistentin eingestellt wurde, wie es damals noch hiess. Sie liebten den Beruf.
Odile Gainon kam aus der Hotellerie. «Mir gefiel es sofort bei der Post. Ich kannte meine Arbeitszeiten im Voraus und hatte einen viel besseren Lohn als zuvor. Unser Beruf war abwechslungsreich, wir waren ein gutes Team, mit dem ich gerne arbeitete und mich auch nach Feierabend traf.» Bald nach der Anstellung trat sie der Gewerkschaft bei. «Mir war bewusst, wie sehr der Arbeitgeber das Sagen hat. In der Gewerkschaft engagierte ich mich nicht aus einem persönlichen Bedürfnis heraus, sondern weil ich mich für eine gute Sache einsetzen wollte. Ich wollte, dass der Wert der Arbeit anerkannt wird und Vorrang vor dem Profit hat.»
Laure Di Luzio sattelte nach dem Abschluss ihrer Banklehre um. «Ich war bereits in einer Gewerkschaft und wechselte einfach meine Mitgliedschaft, als ich bei der Post anfing. Zuerst war ich passives Mitglied. Ich dachte, es reiche, Beiträge zu bezahlen, um mich zu schützen.»
Eine besonders streitbare Postfiliale
Nach den Restrukturierungen – «von der Postassistentin bin ich zur Frontoffice-Mitarbeiterin geworden», erzählt Odile und lacht – und der Einführung von Verkaufszielen und damit dem Druck durch Zahlen und Zeitvorgaben verändert heute die Digitalisierung den Beruf grundlegend. Vor verschiedenen Filialen wurden zum Beispiel «intelligente» Schliessfächer angebracht, damit die Kund:innen ihre Pakete jederzeit abholen können. Zahlungen wie auch der Postverkehr erfolgen meistens online. Diese Veränderungen rechtfertigen die Reduktion der Öffnungszeiten und der Schalteranzahl.
Im Logistiksektor ist der Organisationsgrad nirgends so tief wie bei den Poststellen. Die Teams sind über das gesamte Netz verteilt und haben wenig Kontakt miteinander. Die Vertrauensleute funktionieren als Bindeglieder. An regelmässigen Treffen besprechen sie sich mit dem Gewerkschaftssekretär Michel Guillot. Laure Di Luzio ist seit einem Jahr dabei, als sie den Platz der frisch Pensionierten übernahm. «Ich höre dort, wie Kolleg:innen ohne Vorankündigung von einer Filiale in die nächste geschickt werden. In Eaux-Vives ist das nicht so, bei uns läuft im Moment alles rund. Dies dank dem Engagement von Odile: Sie hat 80 Prozent ihrer Kolleg:innen vom Gewerkschaftsbeitritt überzeugt und sie haben gelernt, sich zu wehren. Wir haben den Chef schon mehrmals zum Einlenken gebracht!»
Den GAV gebüffelt
Es geht darum, eine Vertrauensperson pro Team zu mobilisieren und davon zu überzeugen, gewerkschaftlich anzupacken. Laure Di Luzio sagt, sie habe den GAV gebüffelt. «Ich kannte ihn vorher nicht und wurde mehrmals übervorteilt. Die Achtung unserer Rechte steckt in den Details: Vorgesetzte dürfen nicht verlangen, dass die Kinderbetreuungszeiten geändert werden. Sie dürfen krankgeschriebene Kolleg:innen nicht zu einem Gespräch vorladen oder wichtige Sitzungen verschieben, sodass nicht alle teilnehmen können. Und sie dürfen ihnen auch nicht raten, Xanax zu nehmen, um dem Druck standzuhalten!» Es bleibt aber herausfordernd, die Kolleg:innen dazu zu bringen, Verantwortung zu übernehmen. «Ich helfe und unterstütze sie sehr gerne, aber ich weigere mich, an ihrer Stelle das Wort zu ergreifen.»
Es ist kein Traumberuf mehr. Nur wenige möchten eine Lehre, nach deren Abschluss sie schlecht verdienen. Pensionierte werden durch Externe ersetzt, die «on the job» lernen. Odile Gainon klagt, dass sich die Arbeitsbedingungen verschlechtern. «Man verlangt von uns, zwischen zwei Kund:innen Fortbildungen zu machen, auf die Minute genau anzufangen und die Kasse zu öffnen, während die Kund:innen bereits warten.»
Gewohnheiten bleiben: Odile erzählt noch in der Gegenwartsform. Sie war im Vorstand der Sektion Genf Post und wurde dann Präsidentin der Sektion Genf, als die drei Sektoren fusionierten. Ausserdem wurde sie in den Zentralvorstand gewählt und war dort oft die einzige Frau für den Logistiksektor. «Ich wünsche mir, dass die Kolleg:innen proaktiver sind und nicht warten, bis die Probleme da sind, bevor sie sich regen. Es ist heute schwieriger geworden, Verbesserungen zu erzielen. Wir sollten aber wenigstens dafür kämpfen, das Erreichte zu bewahren. Aber Worte reichen dafür nicht aus, man muss sich engagieren und demonstrieren. Wir sind stark genug, um uns gegenüber den Arbeitgebern zu behaupten!»
Biografie von Odile Gainon und Laure Di Luzio
Odile Gainon kam aus dem benachbarten Frankreich und begann 1989 als Postangestellte zu arbeiten. Im Zuge der Umstrukturierungen wechselte ihre Tätigkeit von Poststellen und Verkauf zum Backoffice und dann ins Frontoffice – aber «ich habe immer denselben Beruf ausgeübt», sagt sie lachend. Als Mitglied des Sektionsvorstands Genève Poste übernahm sie später, als die drei Sektoren vereinigt wurden, das Präsidium der Sektion Genf. Sie wurde auch in den Firmenvorstand PostNetz von syndicom gewählt. Heute ist sie pensioniert und nimmt an den Veranstaltungen «privat» teil.
Laure Di Luzio absolvierte eine Lehre als Bankkauffrau – das war jedoch eine Welt, die ihr nicht gefiel. Sie wurde 1997 bei der Post als Postassistentin eingestellt und arbeitet noch immer in der Filiale in Eaux-Vives, heute als Privatkundenberaterin. Sie hat die Rolle der Vertrauensperson übernommen und bildet sich regelmässig weiter, um sich über die Entwicklungen des GAV auf dem Laufenden zu halten. Sie lebt mit ihren beiden Kindern in Genf.