«Überalterung» – altersfeindliches Unwort des Jahres 2025

Auf dem Hintergrund der deutlichen Annahme der 13.-AHV-Rente und deren Finanzierung sowie der beginnenden Diskussion über das bundesrätliche Konzept der «AHV2030» werden zurzeit analoge und digitale Medien mit journalistischen, aber auch aus den Sozialwissenschaften und den Umfrageinstituten gespiesenen Artikeln geflutet, die die «Überalterung» dämonisieren. Dieser politische Kampfbegriff ist aber ebenso ideologisch überladen wie jener der «Überfremdung». Mit einer zwischen die Generationen gebauten Mauer soll der Sozialstaat geschwächt werden.

Eine kleine Auswahl von Titelsetzungen: «Was graue Mehrheiten für unsere Demokratie bedeuten. – Altersgraben in der Schweiz: Die Überalterung der Schweiz schreitet zügig voran.» Rahel Freiburghaus und Adrian Vatter am 13.10.25 in den Tamedia-Blättern; «Die Dominanz der Alten», Philipp Loser, im MAGAZIN 4/25; «Stimmzwang gegen die Übermacht der Alten?» – Generationenkampf an der Urne (der Bund, 24.10.25); Kurt Aeschbacher im Interview: «Ich habe mich geschämt, als die 13. AHV-Rente angenommen worden ist» (TA, 8.11.25).

Nimmt diese Tendenz weiter Fahrt auf, könnten wir schon bald bei Marco Presta landen, der in seinem Roman «Methusalem kauft Artischocken» den weltweit orchestrierten Aufstand gegen den ältesten Menschen der Welt, den pensionierten 133-jährigen italienischen Grundschullehrer Enrico, thematisiert. Vor Enricos Haus, das unter Polizeischutz steht, werden Flugblätter verteilt: «stoppt das experiment! gegen eine gesellschaft von monstern! was für eine welt hinterlassen wir unseren kindern!»

In der aktuellen BLICK-TV-Werbung ist ein Clip zu sehen, der irreal wirkt: Ausgerechnet eine ältere Villenbesitzerin freut sich über die 13.-AHV-Rente, während sich der jüngere Gärtner im Hintergrund ärgert. Obwohl hier die soziale Kluft dargestellt wird, suggeriert die gut lesbare Schlagzeile die Kluft der Generationen.

Was ist das Gemeinsame einer Generation? Über was läuft der soziale Zusammenhalt, wenn nur demografische Prägungen übereinstimmen? Und was sollte denn die Generationen gegeneinanderstellen? Aus eigener Erfahrung: was haben die Klima-Seniorinnen und ich 76-jähriger bspw. mit dem 75-jährigen Klima- und Wissenschafts-Relativierer, Putin- und Xi Jinping-Freund a.BR Ueli Maurer, der die Schweiz spalten will, sollte eine Mehrheit den Bilateralen III zustimmen, gemeinsam, im Gegensatz zu meinen 50 Jahre jüngeren Kinder und ihrem Umfeld, die sich als Bürger*innen dieses Planeten verstehen und primär besorgt sind wegen der Klimaerwärmung, Kriegen und wachsender sozialer Ungleichheit?

«Überalterung» ist Ausdruck von Altersfeindlichkeit

Statt ideologisch geprägte Mauern zwischen den Generationen hochzuziehen, halten wir uns besser an die intergenerationelle Realität bspw. ganz ausgeprägt in der freiwilligen Care-Arbeit: Pasqualina Perrig-Chiello, emeritierte Psychologie-Professorin, hat Generationenbeziehungen erforscht und sagt: «Für die meisten ist es das Highlight in ihrem Leben, Grosseltern zu werden. Zu sehen, wie das Leben weitergeht, ist einfach ergreifend.» Die unbezahlte Enkelkind-Betreuung beläuft sich auf jährlich 8 Milliarden Franken, 70 Prozent leisten die Grossmütter (aus: «Wie sich mit den Grosseltern Milliarden sparen lassen. Für junge Familien und die Gesellschaft werden Grossmami und Grosspapi immer bedeutender.» Der BUND, 8.03.20).

Das «Generationenbarometer» sieht zwar gewisse Tendenzen, aber keinen tiefen Graben zwischen den Generationen. (Diese repräsentative Studie wird vom Forschungsinstitut «Sotomo» im Auftrag des Berner Generationenhauses in regelmässigen Abständen durchgeführt. Die Studie erschien in diesem Jahr – nach 2020 und 2021 – zum dritten Mal.)

Auch die relevanten soziologischen Forschungen zur Generationenfrage verneinen eine Kluft der Generationen, weil Generationen zu divers, zu wenig homogen sind und weil wir soziale Probleme nicht demografisieren sollten, wie es die Soziologin Silke van Dyk formuliert. Warum heute der Begriff «Überalterung» sich durchzusetzen beginnt, bringt sie auf den Punkt: «In erster Linie ist es doch ein riesiger historischer Erfolg, dass immer mehr Menschen länger leben und gesund bleiben. Dass vor allem medial die Begriffe Alterung und Überalterung weitgehend synonym verwendet werden, ist ein grosses Problem: Die Alterung ist ein empirischer Fakt, der Topos der „Überalterung“ aber Ausdruck von Altersfeindlichkeit. Es unterstellt, dass es eine „richtige“ Alterszusammensetzung gäbe und dass Alterung eine normativ problematische Abweichung sei. Zudem wird mit der Problematisierung ein Verteilungskonflikt aufgemacht, aber nicht zwischen Klassen, zwischen oben und unten, sondern zwischen Jung und Alt.» (Philosophie-Magazin, 28.7.23)

Die AHV ist sozialer Generationenkitt

Wenn immer eine grössere sozialpolitische Kontroverse ansteht, häufen sich die altersfeindlich geprägten Artikel mit dem Ziel, den historisch in harten Auseinandersetzungen entwickelten Sozialstaat nicht weiter auszubauen oder ihn gar zu schwächen. Mit einem einzigen Klick https://www.geschichtedersozialensicherheit.ch/home könnten sich alle Akteur*innen, die sich zu diesem für die Schweiz identitätsstiftenden Thema äussern, kundig machen. Der Sozialstaat mit seiner Altersvorsorge und dessen Kernstück, der AHV, hat historisch betrachtet dafür gesorgt, dass die Kinder nicht mehr für ihre Eltern aufzukommen und dabei ihre Bildung und das Leben schlechthin zu verpassen haben. Damit ist auch der Grund für eine hohe Geburtenrate bei den Eltern weggefallen. Der Sozialstaat und insbesondere die AHV ist DER Generationenkitt schlechthin.

Die erste Säule der Altersvorsorge, die AHV, ist zudem sehr sozial konstruiert: Durch die nach oben unbegrenzte einkommensabhängige Finanzierung bei gleichzeitiger Deckelung der maximalen AHV-Rente gibt es eine gerechte Umverteilung von oben nach unten wie sonst in keiner anderen Sozialversicherung. Dieser Mechanismus und das profitverhindernde geniale Umlageverfahren (alle Lohn- und Kapitalbezüger*innen, nicht nur die jungen, bezahlen die heute anfallenden Renten, die sie dereinst selbst auch beziehen werden) sind die Hauptgründe für die ungebremsten Angriffe auf die erste Säule.

Über die konkrete Ausgestaltung des Sozialstaats und der AHV lässt sich – selbstverständlich – trefflich streiten. Aber bitte mit Fakten und nicht mit Ideologie oder oberflächlichen Auswertungen einzelner Abstimmungen. Die mit gegen 60 Prozent deutliche Annahme der 13. AHV-Rente am 3.3.24, mit Beginn der Auszahlung ab 2026, und die gleichentags haushohe Verwerfung der Rentenaltererhöhung hat zu einem kleinen politischen Erdbeben geführt. Mit Blick auf die Finanzierung dieser Rentenerhöhung schwappen nun die Wellen besonders hoch.

Altersarmut ist seit 1982 leicht gestiegen

Viele Gründe führten 2024 zu diesem wichtigen Ausbauschritt des Sozialstaats.

  • Für die Bürger*innen gehört die AHV zur DNA der Schweiz. Irreführende Propaganda verfängt deshalb nur bei wenigen.
  • Vielen Bürger*innen ist auch bekannt, dass die Altersarmut nicht abgenommen, dafür die freiwillige Arbeit der Pensionierten zugenommen hat: «Für den Altersforscher François Höpflinger ist die bisherige Alterspolitik mit den Schwerpunkten Altersvorsorge und Pflegerischer Versorgung im Alter reformbedürftig. Denn die Armutsraten im Rentenalter wurden nicht reduziert: einkommensschwache Altersrentnerinnen und -rentner im Jahre 1982 15 Prozent, im Jahre 2023 16 Prozent. Und die pflegerische Versorgung in Alters- und Pflegeheimen wurde zwar ergänzt durch vermehrte ambulante Spitexdienste. Aber es herrscht zunehmend Personalmangel, so dass eine medizinische Betreuung unter Zeitdruck leidet, wodurch eine gute Beziehungsqualität zwischen Betreuenden und Betreuten immer wieder gefährdet wird und die Pflegequalität nicht immer dem entspricht, was bei besseren Rahmenbedingungen möglich wäre. Erfreulich ist die längere gesunde Lebenserwartung und die hohe Aktivität von pensionierten Personen in den letzten Jahren. Nach Höpflinger beträgt der Marktwert der Freiwilligenarbeit von Pensionierten schätzungsweise 5 bis 6 Mrd. Franken jährlich und 6 bis 7 Mrd. Franken zusätzlich für die Enkelkinderbetreuung.» (seniorweb 31.10.25)
  • Gerade bei den kleineren und mittleren Einkommen nimmt die Bedeutung der AHV zu, weil die Renteneinkommen tiefer als prognostiziert ausfallen aufgrund des Rentenrückgangs in der Zweiten Säule (Pensionskassen).
  • Der Behauptung, dass aufgrund der demografischen Entwicklung die AHV in der Zukunft unsicher bzw. nur mit viel höheren Beiträgen die gleiche Leistung bezogen werden könne, steht die reale Entwicklung der AHV seit ihrer Einführung und ihren regelmässigen Reformschritten gegenüber: die AHV ist stabil. Das Umlageverfahren der AHV-Finanzierung hat sich entgegen allen Unkenrufen und falschen Prognosen bewährt und als generationentauglich erwiesen.

Der altersfeindliche Kampfbegriff «Überalterung» ist zum Unwort des Jahres 2025 zu erklären und die «Alterung» – oder die zwar nicht für alle gleich gestiegene Lebenserwartung – als zivilisatorische Errungenschaft anzuerkennen. Statt Mauern zwischen den Generationen künstlich hochzuziehen, gilt es, einer sozialen Finanzierung der 13. AHV-Rente zum Durchbruch zu verhelfen und sich ernsthaft mit den neuen bundesrätlichen Leitlinien zur Reform AHV2030 auseinanderzusetzen.

Peter Sigerist, a.SGB-Zentralsekretär, Bern

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