«Mit der Gewerkschaft haben wir Rückhalt»
Text: Giovanni Valerio
Bild: Jean-Patrick Di Silvestro

© Jean Patrick Di Silvestro
Für mich ist der Journalismus ein Mittel, um Ungehörten eine Stimme zu verleihen, ein Schutzwall gegen Ungerechtigkeiten, die er aufdeckt und darstellt. Er hilft beim Verständnis der komplexen Realität und verteidigt die Demokratie. Diese Leidenschaft für die Wahrheitssuche habe ich über Radio, Fernsehen, Artikel, Recherchen und Bücher zum Ausdruck gebracht. Nach meiner Ausbildung in Rom ging ich nach Mailand. Bald zog es mich ins Ausland, um Geschichten zu recherchieren und zu erzählen. Aber auch, um meinen Horizont zu erweitern. So kam ich nach Frankreich, wo ich sieben Jahre arbeitete. Und dann nach Genf.
2022 erfuhr ich von den «Sonderschulen» in Genf, die auch von der UNO als «segregativ», trennend, kritisiert werden. Davon betroffen sind viele Kinder mit Beeinträchtigungen, Autismus, Down-Syndrom oder einfach Kinder, die als für die Regelschule nicht «geeignet» angesehen werden. Es sind Schulen ohne Bewertung oder Abschlüsse, die diesen Jugendlichen ihre Chance auf einen Platz in der Gesellschaft verbauen. Ich fragte mich, wie so etwas in Genf möglich ist, in einer Stadt voller NGOs, also Tausenden Personen, die sich für Menschenrechte stark machen. Ich begann nachzuforschen. Während ich Informationen zusammentrug, die danach mit den Fotos von Gianni Cipriano im L’Espresso erschienen, hat Genf mich und den Fotografen wegen Hausfriedensbruchs angezeigt! Das medizinisch-pädagogische Amt reichte Strafantrag ein, weil wir eine Mutter auf dem Hof einer «Sonderschule» treffen durften und ich sie interviewte, während wir auf ihren Sohn warteten. Die Mutter erzählte mir, die Schule sei nur für Jungen mit Behinderung und ernsthaften Beeinträchtigungen. Es habe Vorfälle mit Gewalt unter den Kindern gegeben, der Sohn sei gewürgt worden und zweimal mit zerbrochener Brille heimgekommen.
«Ich wurde auf den Polizeiposten bestellt.»
Der Fotograf und ich wurden einen Nachmittag lang formell vernommen. Nach einer eingehenden Befragung und einer mehrstündigen Anhörung mit vier Zeug:innen – die das Amt benannt hatte, von dem selbst niemand erschien – stellte der Staatsanwalt das Verfahren ein. Eigentlich war von Anfang an klar: Es hatte keinerlei Hausfriedensbruch gegeben, «da alle Schulhöfe in Genf öffentlich zugänglich sind». Auch Reporter ohne Grenzen hat diesen «inakzeptablen Angriff auf die Informationsfreiheit» angeprangert.
Das Amt reichte Rekurs ein, der mit der gleichen Begründung abgewiesen wurde. Dieser 2 Jahre dauernde Rechtsstreit wurde dank meinem Anwalt Raphaël Jakob gewonnen. Er hat mich äusserst professionell verteidigt und sich sehr grosszügig gezeigt. Ich bin ihm sehr dankbar.
Als ich angezeigt wurde, bin ich syndicom beigetreten. Die Gewerkschaft unterstützte mich und verteidigte das Recht der Presse zur unbehinderten Recherche aller Tatsachen von öffentlichem Interesse. Mir wurde klar, dass ich schon früher hätte syndicom Mitglied werden müssen, um den Rechtsdienst in vollem Umfang nutzen zu können.
«Die Unterstützung der Gewerkschaft ist wichtig: Sie gibt breiteren Rückhalt.»
Was mir passiert ist, hat öffentliche Bedeutung. Der Strafantrag konnte nur zum Ziel haben, mich zum Schweigen zu bringen. Das ist misslungen. Ich befürchte aber, dass das Ganze andere Journalist:innen einschüchtert. Und die Gefahr droht, dass diese Kinder unsichtbar bleiben.
Biographie von Sabrina Pisu
Sabrina Pisu ist in Rom geboren und lebt heute in Genf. Die freischaffende Journalistin arbeitet mit Medien wie RSI, Euronews und dem italienischen L’Espresso zusammen. Sie schrieb mehrere Bücher: über den Fall Mattei, einen Mordanschlag per Flugzeugabsturz, über und mit Letizia Battaglia, der Fotografin, die mit Tatortfotos von Mafiamorden Aufsehen erregte, sowie über die Ehefrau von Richter Falcone. Sabrina Pisu wurde mehrfach ausgezeichnet für Investigativjournalismus.