«Wenn wir solidarisch sind, werden wir auch nicht über den Tisch gezogen»
Text: Baptiste Fellay
Bild: Jean-Patrick Di Silvestro

Mein Vater wehrte sich gegen soziale Ungerechtigkeiten. Das hat mich schon früh für den Sozialismus sensibilisiert. Ich bin ganz am Anfang meines Berufslebens der Gewerkschaft beigetreten, weil ich über die Entscheidungsprozesse informiert und an ihnen beteiligt werden wollte. Schon bald wurde ich Kassierin und später Präsidentin der Sektion Wallis.
Nach der Privatisierung der Swisscom spürten wir, dass sich das Arbeitsklima verändert hatte: Wir sollten wirtschaftlicher arbeiten. Ich wurde selbst Opfer der neuen Arbeitsbedingungen. 2007 musste ich eine dreimonatige Arbeitspause machen. Ich war eine der ersten Personen im Unternehmen mit der Diagnose Burnout. Aus meiner Sicht wurde ich bei meiner Rückkehr gut begleitet. Ich wollte aber nie mehr eine Teamleitung übernehmen und arbeitete nur noch in einem 80-Prozent-Pensum.
«Gemeinsam ist man stärker.»
Wir haben verschiedene Kämpfe gewonnen: Zum Beispiel wurde die Wochenarbeitszeit, die 45 Stunden betrug, reduziert und wir haben eine fünfte Ferienwoche für Angestellte über 50 erhalten. Aber nicht selten war es so, dass uns zuerst Vorteile gewährt wurden und die Hierarchie dann mit Hilfe der Unternehmensjuristen das Erreichte umging. Das zeigt wieder einmal, wie wichtig die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft ist. Dort trifft man Leute mit den gleichen Problemen. Gemeinsam ist man stärker. Und es geht um Machtverhältnisse. Wenn die Arbeitenden solidarisch sind, werden sie auch nicht immer über den Tisch gezogen.
Ich habe mich für bessere Löhne und kürzere Arbeitszeiten, aber auch für die Stellung der Frauen eingesetzt. Ich habe Kurse organisiert und den Frauen gezeigt, wie sie mehr Mitsprache einfordern können. In Sion haben wir Veranstaltungen für Frauen durchgeführt. Wir haben sogar die Büros des Kantons besetzt! Aber die Atmosphäre blieb immer freundlich. Noch heute finde ich, dass zu wenig Frauen in Führungspositionen sind, auch bei den Gewerkschaften.
«Sorgen bereitet mir, dass die Jungen zu wenig in der Gewerkschaft mitmachen.»
Ich weiss nicht, ob sie allgemein individualistischer sind. Aber ich denke, dass mit der Pandemie und dem Homeoffice unsere kollektive Vision etwas verloren gegangen ist. Ich bleibe aber zuversichtlich. Das ist sicherlich nur eine Phase. Denn der gemeinsame Kampf bleibt zentral, vor allem in Zeiten der Inflation und steigender Krankenkassenprämien.
Heute trete ich für die Rechte der Pensionierten ein. Rentner:innen haben Zeit zur Verfügung und können einen grossen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Sie pflegen Angehörige und engagieren sich ehrenamtlich für wohltätige Zwecke. Aber Pensionierte sind auch eine Bevölkerungsgruppe, die prekäre Verhältnisse kennt. Viele meiner Bekannten waren gezwungen, weiter in kleinen Jobs zu arbeiten, beispielsweise in der Nachbarschaft zu putzen. Bei Frauen sind solche prekären Verhältnisse verbreiteter, da viele von uns nur Teilzeit gearbeitet hatten, um Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren.
«Ich setze mich vor allem für bessere AHV-Renten ein.»
Die Abstimmung für die 13. Rente wird sehr wichtig. Die Pensionierten müssen sich mobilisieren. Niemand wird an unserer Stelle kämpfen.
Biographie von Josette Praz
Josette Praz kam 1960 in Grandson zur Welt. Nach einer Ausbildung in der Weinbranche begann die Winzertochter dort auch ihr Berufsleben. Mit 25 wechselte sie den Beruf und wurde Telefonistin bei der PTT in Lausanne und dann in Sion. Schon im ersten Jahr bei der PTT trat sie der Gewerkschaft bei.
In 33 Jahren Tätigkeit in der Branche erlebte sie die Privatisierung und die Entstehung der Swisscom und wurde Teamleader. Seit Januar 2018 ist sie pensioniert und vertritt heute die Pensionierten im Walliser Vorstand. Sie ist auch Mitglied der Rentnerinnen- und Rentnerkommission des SGB.