Entsendungen sehr kurzfristig voranmelden: Wo liegt das Problem?
In die Schweiz entsandte Arbeitnehmende (⊳ Schweizer Entsendegesetz) müssen vom ausländischen Betrieb beim Schweizer SEM vorangemeldet werden. Die EU fordert, dass die Frist für diese Voranmeldung von 8 auf 4 Tage halbiert wird. Doch auch mit besseren Meldeverfahren und mehr Personal für die Kontrollen ist dies kaum praktikabel. Missbräuche sind vorprogrammiert.
Text: Muriel Raemy
Das Wichtigste in Kürze
- Brüssel fordert kürzere Meldefristen: Die EU will die Meldefrist für in die Schweiz entsandte Arbeitnehmer:innen von 8 auf 4 Tage verkürzen.
- System unter Druck: Gewerkschaften und paritätische Kommissionen warnen, dass die administrative Belastung bereits heute zu hoch ist, um wirksame Kontrollen auf den Baustellen zu organisieren.
- Grösseres Missbrauchsrisiko: Die Verkürzung der Frist könnte die Überwachung der Arbeitsbedingungen schwächen, Lohndumping begünstigen und die Sicherheit beeinträchtigen.
- Schwächung der Sanktionen: Ohne Mittel zur Durchsetzung der Geldstrafen verlieren die Kontrollen ihre Wirksamkeit.
Erhält etwa ein deutscher Netzbau-Betrieb einen Auftrag für eine Baustelle in der Schweiz, muss er die Einsätze seiner Angestellten mindestens acht Tage im Voraus melden. Konkret füllt der Betrieb auf der Website des Staatssekretariats für Migration (SEM) ein Formular aus. Diese Anmeldung übermittelt das SEM an den betroffenen Kanton.
Das Dossier über jeden einzelnen Arbeitseinsatz leitet die kantonale Stelle an das jeweils zuständige Kontrollorgan weiter, damit die Arbeitsbedingungen etc. kontrolliert werden können. Je nachdem, ob für den Einsatz ein allgemeinverbindlicher (ave) Gesamtarbeitsvertrag (GAV) existiert oder nicht, werden die Kontrollen tripartit-kantonal oder branchen- und GAV-spezifisch durchgeführt (⊳ siehe Infobox «Zwei Arten Kontrollorgane»)
Meldungen: je nach Kanton verschieden …
syndicom hat die allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträge für die Netzinfrastruktur-Branche und für die Contact- und Callcenter-Branche unterzeichnet, und syndicom verwaltet auch beide paritätischen Kontrollkommissionen. Pascal Kaegi, Leiter GAV-Vollzugsstelle bei syndicom, erklärt, warum unser Föderalismus das Sortieren der Meldungen erheblich erschwert:
«Da die beiden Gesamtarbeitsverträge (GAV) für die gesamte Schweiz gültig sind, erhalten wir die Meldungen für Entsendungen (für Netzinfrastruktur-Arbeiten) und für kurzfristige Beschäftigungen in Schweizer Unternehmen (für Netzinfrastruktur sowie Contact- und Callcenter) von allen Kantonen, und zwar alle in unterschiedlichen Formaten.»
Der administrative Aufwand geht zulasten der Zeit, die für die Kontrollen auf den Baustellen benötigt wird. In der Netzinfrastruktur ist Kontrolle häufig schwieriger als in anderen Branchen.
«Arbeiten auf den Hochspannungsmasten oder das Verlegen von Kabeln sind nicht bei jedem Wetter möglich und werden deshalb häufig im letzten Moment verschoben.»
Eine Ansprechperson auf der Baustelle zu finden, um Uhrzeit und Ort zu bestätigen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Dasselbe gilt für Kontrollen in Bahnnähe. Dort müssen die Kontrolleur:innen aus Sicherheitsgründen zuerst mit den Baustellenverantwortlichen Kontakt aufnehmen.
«Man kann sich denken, wie viel Zeit noch zur Verfügung stehen würde, wenn die Frist auf vier Tage halbiert würde!»

Kontrollen brauchen Zeit!
Theoretisch und technisch könnte die Übermittlungsfrist an die Kontroll- oder Vollzugsorgane verkürzt werden: Mit besserer Software, effizienteren Prozessen, mit einer nationalen statt kantonalen Koordination der Meldungen usw. Aber das verkennt die Realität.
Im Auftrag des SECO überprüfen die Kontrollteams vor Ort nicht nur Löhne und Spesen, sondern auch die Einhaltung der Ruhezeiten, Sicherheit, Gesundheit und Hygiene am Arbeitsplatz. Pascal Kaegi:
«Das Kontrollsystem in der Schweiz ist heute in weiten Teilen unterdotiert. Nicht nur in den paritätischen Kommissionen, sondern in allen Kontrollorganen. Dies öffnet Tür und Tor für Lohndumping und prekäre Bedingungen für die entsandten Arbeitnehmenden.»
Die GAV-Vollzugsstelle syndicom der beiden allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträge (GAV) kontrolliert im Namen der paritätischen Kommissionen jedes Jahr rund 100 Arbeitnehmende, die von 40 bis 50 ausländischen Unternehmen entsendet werden (Netzinfrastruktur). Zusätzlich kontrolliert unsere Vollzugsstelle etwa 60 Meldungen kurzfristiger Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmenden in Schweizer Unternehmen (der beiden Branchen).
«Die beiden paritätischen Kommissionen stellen Verstösse fest, von denen knapp drei Viertel erheblich sind. Es geht um Lohndumping, auch bei den Ferien- und Feiertagsentschädigungen oder Vergütungen für Übernachtung und Mahlzeiten, die nicht korrekt bezahlt werden. Oder aber die Stundenrapporte werden nicht so erstellt, dass die effektiv geleisteten Arbeitsstunden kontrolliert werden können.»
Die EU fordert vier Tage
Worum geht es der EU? Sind die heute geltenden acht Tage etwa ein Hindernis für die Personenfreizügigkeit? Oder eine Wettbewerbsverzerrung im freien Markt?
«Eine Halbierung der Zeit auf vier Tage würde ein System, das schon jetzt nicht perfekt ist, weiter schwächen. Und wir haben noch gar nicht über die Sanktionen gesprochen», sagt Pascal Kaegi. «In den ave GAV ist ein Kautionssystem enthalten, damit ausländische Unternehmen zur Bezahlung von Bussen verpflichtet werden können. Auch hier versucht die EU, die Kontrollen zu schwächen: Es hilft nicht viel, wenn man Abweichungen feststellt, die Sanktion dann aber nicht bis zur Zahlung durchsetzen kann».
Zwei Arten Kontrollorgane
Für Baustelleninspektionen sind zwei Arten von Kontrollorganen zuständig. Existiert für den jeweiligen Fall kein allgemeinverbindlicher Gesamtarbeitsvertrag (GAV) mit Mindestvorschriften für Löhne oder Arbeitszeit, werden die Kontrollen von kantonalen tripartiten Kommissionen durchgeführt. Sie setzen sich zusammen aus Vertreter:innen der staatlichen Behörden, der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften.
Wenn es für einen Arbeitseinsatz jedoch einen allgemeinverbindlich erklärten GAV gibt, sind paritätische Kommissionen aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmendenorganisationen der Branche für die Kontrolle zuständig. So organisiert die GAV-Vollzugsstelle von syndicom – neben der Kontrolle der Schweizer Unternehmen – die Kontrolle sämtlicher Meldungen von ausländischen Arbeitnehmenden, die für Arbeiten in den Branchen Netzinfrastruktur und Contact- und Callcenter entsendet werden.
Das Abkommen zur Personenfreizügigkeit
Das Schweizer Entsendegesetz gehört zu den so genannten «flankierenden Massnahmen» (FlaM) zum Personenfreizügigkeitsabkommen, das 2002 in Kraft getreten ist.
⊳ Weitere Informationen zu «Entsendung und Flankierende Massnahmen» (SECO)
Zur Erinnerung: Diese wichtigen (2004 eingeführten) flankierenden Massnahmen schützen die Erwerbstätigen vor missbräuchlicher Unterschreitung der Schweizer Lohn- und Arbeitsbedingungen. Sie gewährleisten ausserdem gleiche Wettbewerbsbedingungen für in- und ausländische Unternehmen.