«Ich werde engagiert bleiben. Ich kann nicht anders»
Text: Vera Urweider
Foto: Sabine Rock

Ich hatte sofort gemerkt: Das stimmt für mich! Gleich beim ersten Gespräch mit syndicom fühlte ich mich zu Hause. Ja, ich bin eine politische Person. Und ja, ich bin stets auf der Suche nach Gerechtigkeit. Zwanzig Jahre ist dieser Aha-Moment nun her. Ich durchlebte damals eine persönlich schwierige Phase, wenig Geld, die Schliessung des Briefzentrums in St. Gallen, wo ich gearbeitet hatte, privat die Scheidung und zwei Kinder in Ausbildung. Doch ich blieb standhaft. Aufgeben war keine Option.
Ein Arbeitskollege erzählte mir dann von syndicom. Ich sei immer so engagiert. Das wär doch was. Zwanzig Jahre später bin ich noch immer dabei. Seit fünfzehn Jahren in der Frauenkommission, seit acht präsidiere ich diese und wurde gerade im Februar zu weiteren vier Jahren gewählt. Zudem bin ich seit zehn Jahren im Zentralvorstand. Diese Arbeit ist unglaublich spannend. Der direkte Draht ins Bundeshaus. Mitsprechen zu können.
«Die Gewerkschaft hat eine Stimme. Sie ist stark.»
In einem Monat werde ich sechzig. Nach der aktuellen Legislatur als Präsidentin der IG Frauen werde ich zu den Pensionierten syndicom wechseln. Da gibt es auch sehr viel zu tun. Ich werde engagiert bleiben, auch nach meiner Pensionierung. Ich kann ja nicht anders.
Seit dreissig Jahren bin ich bei der Post, seit zwanzig als Teamleiterin. 1400 Leute hab ich in all den Jahren geführt. Acht Jahre lang arbeitete ich in der Nachtschicht, 42 Frauen unter mir. Es war unglaublich streng. Tagsüber die Kinder, nachts die Arbeit. Aber ich hab diesen Stress geliebt. So viele temporäre Mitarbeitende. Ein unaufhörliches Kommen und Gehen. Sechzig verschiedene Nationen. Eine echte Herausforderung. Richtig schön, mit all diesen Menschen zusammenzuarbeiten. Und für sie einzustehen. Ich war nie eine strenge Teamleiterin, aber stets korrekt. Jede und jeder kannte die Grenzen. Doch jede und jeder konnte immer zu Ingrid gehen. Ich war für alle da. Eine Vertrauensperson.
Ich habe mich immer für die Frauen eingesetzt. Ja, ich bin nicht nur eine politische Person, sondern auch eine feministische. 2027 gibt es wieder einen grossen Frauenstreik und ich werde an vorderster Front dabei sein. Darum war die IG Frauen für mich der richtige Ort bei syndicom. Ich hoffe, dass die positive Entwicklung punkto Gleichstellung weiter gehen wird. Das gewachsene Selbstbewusstsein der Frauen, das ist das Schönste, das ich in all der Zeit beobachten konnte.
«Und dennoch heisst für mich Gleichstellung nicht einfach Frauenquote.»
Nein, Gleichstellung soll eben gleich für alle sein. Gleicher Lohn. Gleiche Rechte. Und bei einer Stelle soll die beste Qualifikation zählen.
Mann, Frau, nonbinär, inter-, a- oder transsexuell – das hat nichts mit dem Können zu tun. Was ich mir wünsche, ist Gerechtigkeit. In der IG Frauen sind wir gerade dabei, die Statuten zu ändern und die Gruppe für INTA-Personen zu öffnen. Ein viel diskutierter, doch wichtiger Schritt für eine moderne Gewerkschaft. Wir stehen zusammen.
«Kämpfe werden Kämpfe bleiben.»
Waren es anfangs vor allem Lohnverhandlungen und das Erreichen eines GAV, sind heute Themen wie Mobbing oder sexuelle Übergriffe mehr ins Zentrum gerückt. Das ist sehr wichtig, denn noch immer wird viel zu viel geschwiegen. Und ja, Frauen müssen sich noch immer mehr beweisen als Männer, um denselben Job zu bekommen und zu behalten. Auch das Alter ist als Frau in der Arbeitswelt strenger als als Mann. Mit Mitte fünfzig bist du nicht mehr attraktiv. Frauen kurz vor dem Rentenalter, die kann man viel schneller abschieben. Umso wichtiger wird für mich die Arbeit bei den Pensionierten. Nochmals ein neuer Kampf. Und ich freue mich darauf!
Biografie von Ingrid Kaufmann
Ingrid Kaufmann ist in der Tschechoslowakei aufgewachsen, absolvierte erst eine Ausbildung zur Zeichnerin und studierte schliesslich Architektur in Prag. Mit 27 kam sie mit ihrem zweiten Mann und ihren zwei Kindern in die Schweiz.
Trotz Angeboten in Architekturbüros scheiterte ihr Arbeitsbeginn an zwei Dingen: sie war damals der deutschen Sprache noch nicht mächtig und das tschechoslowakische Studium zählte in der Schweiz nicht. Mit zwei kleinen Kindern fokussierte sie sich aufs Deutschlernen und suchte nebenher nach Jobs.
Nach zwei Jahren in einer Galerie in Au wechselte sie zur Post in St. Gallen, arbeitete dort als Sortiererin im Briefzentrum. Zehn Jahre später schloss dieser Standort, Kaufmann durfte sich aufgrund des Reorganisationsprogramms der Post weiterbilden und wurde schliesslich Teamleiterin im Briefzentrum Mülligen, wo sie seit zwanzig Jahren heute noch arbeitet. Genauso lange ist sie bei syndicom, sitzt im Zentralvorstand und seit acht Jahren präsidiert sie die Frauenkommission.