Selbstständige in der Schweiz sind nicht gegen Erwerbsausfall versichert. Um die fehlende Absicherung grundsätzlich zu beheben, haben wir eine Arbeitsgruppe gebildet und zusammen mit einem Team um Prof. Mathias Binswanger von der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) ein Modell für eine Auftragslosenversicherung erarbeitet. Unsere Arbeitsgruppe ist breit abgestützt: Arbeitnehmende der visuellen Kommunikation und der Presse sind mitbeteiligt.  

Das Wichtigste in Kürze: Unser Modell sieht vor, dass Selbstständigerwerbende bei guter Auftragslage Reserven aufbauen können, um anschliessend im Falle einer Durststrecke davon profitieren können. 

Das Modell im Detail

Mit der Einführung der Auftragslosenversicherung für Selbständige (ALV-S) werden den Kund:innen (analog zur MwSt.) obligatorisch auf jeder Rechnung von Selbständigwerbenden 4% ALV-S-Prämien verrechnet. Ausgenommen sind Materialkosten und Leistungen Dritter. Diese ALV-S-Beiträge wären obligatorisch und könnten weder von Selbständigerwerbenden noch von Kunden umgangen werden.  

Der:Die Selbständige überweist jeweils 4% von Kund:innen (welche er/sie über die Rechnung erhalten hat) und 4% eigenen Beitrag an die ALV-S. Abgerechnet und einbezahlt wird quartalsweise, damit sowohl die Versicherten wie auch die Versicherung weiss, wie der aktuelle Stand ist. 

Bei der ALV-S wird pro versicherte Person zwischen zwei Konti unterschieden: dem Sparguthaben (Beiträge Selbständige:r) und der Versicherung (Kund:innenbeiträge). Die Beiträge der Selbständigwerwerbenden bleiben in jedem Fall in ihrem Besitz (mehr dazu weiter unten), die Beiträge der Kund:innen finanzieren den Versicherungsschutz.  

Versichert sind 80% vom durchschnittlichen Monatsumsatz. Bei einem Jahresumsatz von 60’000.– Fr., also 4’000.– Fr. pro Monat. Da damit nicht nur der Nettoverdienst versichert ist, können Selbständigerwerbende neben ihrem eigenen Leben auch die laufenden Kosten ihrer Berufstätigkeit wie etwa Ateliermiete, Softwareabos etc. auch im Falle einer Auftragslosigkeit weiter bewältigen. Das ist wichtig, damit sich Selbständigwerbende im Falle einer Auftragslosigkeit voll auf das Akquirieren neuer Aufträge konzentrieren können. 

Da jedes Jahr 8% vom Jahresumsatz in die Reserven fliessen, reichen die Reserven nach 4 Jahren für 4 volle Monate, nach 10 Jahren bereits für 12 Monate. Wenn die Kund:innenbeiträge im Konto Versicherung Reserven für mindestens 6 Monate aufgebaut haben, wachsen diese nicht weiter an. Stattdessen fliessen 50% der Kund:innenbeiträge zusätzlich in die Reserven im Sparguthaben. Die Sparbeiträge wachsen dadurch stärker an als nur durch die eigenen Beiträge. 

Im Falle eines Umsatzrückgangs von beispielsweise 25% im Vergleich zum Vorjahr, werden 3 Monate (25% von 12 Monaten) ausbezahlt. Das restliche Guthaben bleibt für später. Bezogen werden immer zuerst die persönlichen Sparguthaben. Durch diesen Modus soll verhindert werden, dass Versicherungsguthaben durch Umsatzverlagerungen (etwa indem Rechnungen bewusst später geschickt werden) unrechtmässig bezogen werden. Da die persönlichen Reserven sowieso im Besitz der Selbständigen bleiben, ist ein Betrug daher in jedem Fall zuerst ein Betrug an sich selbst. Sind die persönlichen Reserven aufgebraucht, kommen die Reserven aus dem Konto Versicherung an die Reihe. Da die maximal 6 Monate aus dem Versicherungskonto durch Kund:innenbeiträge des/der direkt betroffen Selbständigerwerbenden ebenfalls direkt finanziert worden sind, besteht für die Versicherung somit generell kein Betrugsrisiko. 

Durch neue Beiträge wird die Versicherung ständig weiter aufgebaut. Ein Bezug bedeutet also nicht das Ende, sondern die Reserven werden durch neue Beiträge ständig wieder aufgebaut. Die Reserven begleiten den:die Selbständige:n im besten Fall also ein ganzes Berufsleben lang. Selbständigerwerbende werden vom ersten bis zum letzten Bezug von einer Fachstelle, analog des RAV bei Arbeitslosen, begleitet und beraten. Der Fokus dieser Begleitung liegt entsprechend der individuellen Situation und der verbleibenden Reserven auf folgenden 5 Phasen: 

  1. Liquiditätsüberbrückung
  2. Coaching bei Akquise
  3. Weiterbildung
  4. Umpositionierung
  5. Ausstieg aus Selbständigkeit und Wechsel in ein Angestelltenverhältnis.  

Wird die Selbständigkeit freiwillig beendet (Anstellung/Pensionierung), so werden alle eigenen verbleibenden Sparbeiträge an den:die Selbständige:n ausbezahlt. Die Versicherungsbeiträge verbleiben in der Versicherung. Anders als bei reinen Versicherungsmodellen bietet dieser Sparansatz grosse Anreize, die Versicherung nur im Notfall zu brauchen und er ist ideal für diese Zielgruppe, da die Auftragslosigkeit von Selbständigerwerbenden sehr schwierig zu überprüfen ist. Das Modell ist in dem Sinn auch keine klassische Versicherung, sondern die Hilfe zur Selbsthilfe.

Die wichtigsten Fragen und Antworten

Es stimmt, Selbständige könnten auch ohne obligatorische Auftragslosenversicherung Reserven aufbauen und einige tun das auch. Diese Reserven werden als zusätzliche Kosten in ihren Honoraren an die Kund:innen weiterverrechnet. Da diese Kosten heute nicht obligatorisch sind, oft nicht in die Marktpreise eingerechnet. Solange es Selbständige gibt, die diese Kosten nicht einrechnen (und damit das Risiko auf den Staat überlagern), haben diese einen Marktvorteil gegenüber Selbständigen, die die Reserven anlegen. Wer im freien Markt konkurrenzfähig bleiben will, ist daher oft gezwungen, selber ebenfalls keine Reserven einzukalkulieren, um Aufträge nicht an die Konkurrenz zu verlieren. Im Schlimmsten Fall müssen die Selbstständigerwerbenden Sozialhilfe beziehen, um bei Auftragslosigkeit die laufenden Kosten zu decken.  Mit einer Auftragslosenversicherung für Selbständigerwerbende werden die Kosten im Falle einer Auftragslosigkeit denen aufgebürdet, die sie produzieren: Den Selbständigerwerbenden und ihren Kund:innen.

Die bestehende Arbeitslosenversicherung ist auf eine fortsetzende gleichbleibende Tätigkeit ausgerichtet. Selbständige haben wechselnde Kund:innen und unterschiedlich grosse Aufträge. Wird eine angestellte Person arbeitslos, verliert diese in der Regel ihr ganzes Arbeitsvolumen. Ist eine neue Anstellung gefunden, ist das Problem gelöst. Bei Selbständigen hingegen ist der Auftragsverlust meistens nicht 100%, aber auch 50%, oder nur schon 25% können Selbständige vor existenzielle Probleme stellen. Selbständige müssen, anders als Angestellte, auch während der Arbeits-/Auftragslosigkeit berufstätig bleiben. Dazu gehört auch, dass sie nicht nur das persönliche Einkommen, sondern auch die anfallenden Berufskosten decken können. Zudem brauchen die Selbständigen eine ganz andere Beratung auf den RAV als die Angestellten. Eine hingegen wichtige Parallele zur Arbeitslosenversicherung ist die paritätische Finanzierung der Versicherung. Auch die Arbeit-/Auftraggeber:innen der Selbständigen müssen die Hälfte der Kosten beisteuern.  

Die Frage nach dem Missbrauch war immer das Hauptargument gegen eine Versicherung für Selbständige, da diese es selber in der Hand hätten, keine Aufträge mehr zu akquirieren und so auftragslos zu werden/bleiben. Dieses Missbrauchsrisiko besteht auch in der Arbeitslosenversicherung für Angestellte, wo es durch eine fachliche Betreuung auf den sogenannten RAV kontrolliert und falls nötig sanktioniert wird. Auch in unserem Modell wird die auftragslose Person, wie in der normalen Arbeitslosenversicherung, von einer solchen Fachperson auf einem RAV begleitet. Diese Person kann, wie bei angestellten Personen, kontrollieren, ob sich jemand tatsächlich bemüht oder nicht.  

Da im Unterschied zur ALV bei Angestellten bei der ALV-S aber keine Beträge bezogen werden können, die nicht von der versicherten Person selber einbezahlt wurden, ist das Missbrauchsrisiko in der Auftragslosenversicherung für Selbständige sogar weniger problematisch als in der Arbeitslosenversicherung für Angestellte. Wer die ALV-S betrügt, betrügt primär sich selber um seine Reserven. Wer seine Reserven beziehen will, kann umgekehrt seine selbständige Tätigkeit einstellen und den ganzen Sparbetrag beziehen, ohne überhaupt einen Betrug begehen zu müssen.  

Wenn die Auftragslosenversicherung nicht obligatorisch ist, haben diejenigen Selbständigerwerbenden ohne Auftragslosenversicherung gegenüber denjenigen Selbständigen, die sich gegen Auftragslosigkeit versichern, einen Wettbewerbsvorteil, denn das Modell sieht vor, dass die Kund:innen Beiträge von 4% auf jeden Auftrag zahlen müssen.   

Kann das Obligatorium branchenspezifisch sein?   

Ja, das könnte es. Die Frage ist aber, ob es nicht sowieso Sinn macht, die Anforderungen an den Selbständigerwerbenden Status generell zu verschärfen, um es gar nicht zuzulassen, dass Kosten von den Kund:innen auf die Allgemeinheit abgewälzt werden.  

Eine obligatorische Auftragslosenversicherung wird vor allem in Branchen gebraucht, wo die Marktpreise es heute nicht zulassen, Reserven aufzubauen. Baut heute jemand selber bereits genug Reserven auf, kann er die Kosten der ALV-S in seinen heutigen Kosten integrieren, muss seine Preise also nicht zwingend erhöhen.  

Generell stehen wir vor dem Problem, dass die Selbständigkeit wenig reglementiert ist. Dadurch, dass elementare Posten wie die 2. Säule oder das Bilden von Reserven nicht obligatorisch sind, arbeiten leider viele Selbständige unter ihren effektiven Kosten. Selbständige die alle Kosten einrechnen, sollten ihre Preise durch eine ALV-S nicht erhöhen müssen.  

Mit einer Verteuerung der Arbeit für die Kunden von 4% wird ein Auftrag, der vorher 1000.- Franken gekostet hat, neu 1040.- Franken kosten. Wir gehen davon aus, dass zumindest in den von uns beobachteten Branchen die Kunden bereit sind, diese zusätzlichen Kosten zu tragen. Wer bereits heute Aufträge an ausländische Anbieter:innen vergibt, wird es auch weiterhin tun und kann und soll mit einer Auftragslosenversicherung auch nicht bekämpft werden. Wichtig ist für uns, dass Arbeit, die in der Schweiz erbracht wird, auch zum Leben in der Schweiz reicht. Dazu gehört auch, dass die Person genügend abgesichert ist.  

syndicom Kontaktperson

Michael Moser

Zentralsekretär Medien, Grafische Industrie, Visuelle Kommunikation, Buch- und Medienhandel
0588171818
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