Artikel

127 Jahre Niklaus und Rosalie - zum 1. Mai

Die Rechnung war einfach: Dreimal acht ist vierundzwanzig. Ein voller Tag also. Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Musse, acht Stunden Schlaf. Wenn das Baby nicht schreit. Das war die Forderung am allerersten Ersten Mai, seither sind 127 Jahre vergangen. Das Baby hat dann doch geschrien, da warens nur noch vier Stunden Schlaf für Niklaus. Er sang am Bettchen leise von Rosen.


Dann kam schon der erste Krieg: vier Jahre Grenzdienst und dann zwei Jahre fast ganz ohne Arbeit. Die zählen nicht zur Musse, weil kein Genuss dabei war, Niklaus konnte die Füsse nicht mit gutem Gewissen auf den Tisch legen. Wobei der Tisch auch bei gutem Gewissen irgendwann abgewischt werden muss, das geht dann von der Musse ab, so kommt Rosalie ins Spiel. Sie liebt Niklaus während 127 Jahren und immer bleiben sie beide jung und werktätig.

Rosalies Rechnung geht am Anfang so: Elf Stunden Fabrik, eine Stunde kochen und so weiter, einkaufen, den Tisch abwischen, also muss ihre Musse vom Schlaf abgezogen werden. Das trifft sich gut, denn Rosalie geht nachts gern aus und tanzt nach dem Krieg, auch in der Wirtschaftskrise, schon tanzt sie Lindy Hop und wird nicht müde davon, man wird befeuert beim Tanzen und die Arbeit geht dann schneller von der Hand. Was andere in acht Stunden machen, geht bei ihr in sieben, also macht sie mehr als andere in ihren acht Stunden Arbeit, sechsmal die Woche.Der Schlaf wird kürzer, als das zweite Baby kommt. Bald lernt es laufen. Am Sonntag machen die Kinder Schabernack und verstecken sich, da heisst es so tun, als ob man ganz überrascht wäre, wenn man sie findet, man verliert sich auch selber im Wald. Bald sucht man drei Kinder.

Es kommt der zweite Krieg. Nochmals einige Jahre Grenzdienst für Niklaus, hundert schlaflose Nächte, weil vielleicht bald alles aus ist. Was soll man da noch Stunden zählen. Für die einen kommt dann der Aufschwung. Rosalie streikt zwei Monate lang. Sie hofft, dass alles anders wird, diesmal zum Guten. Dann geht es weiter mit acht Stunden Fabrik, eine Stunde staubsaugen und Wäsche aufhängen, am Sonntag ein Ausfährtchen. Zwei Wochen Ferien. Drei Jahre Lenk, sieben Jahre Tessin, dann nur noch Ravenna. Ein bisschen Italienischlernen gehört zur Musse, das ist Genuss für Rosalie. Wenn sie bei der Arbeit einen Moment lang warten muss oder alles automatisch geht, sagt sie sich Wörter vor, die sie schon auswendig weiss, so dringt die Musse heimlich in die Fabrik ein.

Weil die Kinder schon grösser sind, wird der Schlaf länger, er dehnt sich in den Abend aus, weil weniger getanzt wird und die neuen Maschinen im Mietshaus gemütlich brummen. Auch die Arbeitstage sind länger geworden, sie dauern jetzt 9 Stunden, dafür ist der Samstag frei.

Dann kommt das Stempeln, nun auch für Rosalie, ein halbes Jahr tägliches Einerlei. In der Fabrik stehen die Maschinen still, sie werden abtransportiert, man muss jetzt das Hirn schulen für acht Stunden vierzig im Büro, eineinhalb Stunden Sport, weil das Büro dick macht und Rosalie will sich nicht gehen lassen im neuen Zeitalter, auch den Computer macht sie spielend mit, das hat sie von den Kindern gelernt: wenn man spielt, ist alles Musse, also Genuss.

«Wir arbeiten hier spielend», steht eines Tages auch auf dem Bildschirm, eine Botschaft der Geschäftsleitung. Man muss hier geniessen, wird mündlich mitgeteilt, zuerst nur durch die Blume, auch der Schlaf muss richtig genossen werden, es ist deine Verantwortung, Rosalie, in Tiefschlaf zu verfallen, wenn es Zeit ist, damit sich die Träume aller Sorgen bemächtigen, die Kinder sollen von Klippen stürzen und dann doch fliegen können, es wird alles gut, weisst du am Morgen beim Aufwachen, wenn die acht Stunden vierundzwanzig schon begonnen haben – da ist ja bereits eine Nachricht. Die neuen Maschinen piepsen.

Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Musse, acht Stunden Schlaf, das wäre Rosalie immer noch recht. Oder sie könnte die Zeit vergessen, das wäre noch schöner.

 

Annette Hug ist freie Schriftstellerin. Von 2009 bis 2014 arbeitete sie als Gewerkschaftssekretärin beom VPOD.

Informiert bleiben

Persönlich, rasch und direkt

Du willst wissen, wofür wir uns engagieren? Nimm Kontakt zu uns auf! Bei persönlichen Anliegen helfen dir unsere Regionalsektretär:innen gern weiter.

syndicom in deiner Nähe

In den Regionalsekretariaten findest du kompetente Beratung & Unterstützung

Jetzt Mitglied werden