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Allein mit sich und der Welt

Kann man einen Film empfehlen, der während 90 Minuten nur von einer einzigen Person getragen wird? Wer Julian Roman Pölslers eigenwillige Literaturverfilmung gesehen hat, wird die Frage überflüssig finden: «Die Wand» ist grosses Kino. 

Eine namenlose Frau schreibt in einer Berghütte in den österreichischen Alpen hastig ihre vor einiger Zeit erlebte Geschichte auf. Im Off hört man ihre Stimme; sie sagt, sie schreibe nicht aus Freude, sondern sie müsse das tun, um nicht den Verstand zu verlieren. Die Frau war an einem Maitag mit einem befreundeten Ehepaar auf ein Wochenende mitgefahren in deren Jagdhütte in einer idyllischen Waldlichtung bei einer Schlucht, vor grandioser Bergkulisse. Als die Eheleute am späten Nachmittag noch ins Dorf gehen, bleibt die Frau mit dem Hund ihrer Gastgeber in der Hütte zurück und legt sich früh schlafen. Doch als sie am Morgen erwacht, ist immer noch niemand da. So macht sie sich zusammen mit dem Hund auf die Suche nach ihren verschwundenen Gastgebern. Und dann stösst sie auf dem Weg durch die Wald- und Berglandschaft plötzlich an eine ebenso unsichtbare wie undurchdringliche Wand, die sie wie eine Panzerglasscheibe von der übrigen Welt abschneidet. «Nach wenigen Schritten stiess ich mit der Stirn heftig an und taumelte zurück. Verdutzt streckte ich die Hand aus und berührte etwas Glattes und Kühles: einen glatten, kühlen Widerstand an einer Stelle, an der doch gar nichts sein konnte als Luft.» So beschreibt Marlen Haushofer (1920–1970) in ihrem 1963 erschienenen Roman «Die Wand», was der namenlosen Erzählerin widerfährt.

In dem fast dreihundert Seiten starken Buch erscheint diese Stelle bereits nach wenigen Seiten – und auch die Filmfigur, die im Abspann nur «Die Frau» heisst, macht diese beunruhigende Erfahrung in den ersten zehn Filmminuten. Von diesem Moment an ist «Die Frau» für den weiteren Verlauf des Films mit sich und der Natur allein. Nur der Hund, der im Gegensatz zu ihr einen Namen hat, Luchs, ist im Weiteren ihr Begleiter, und zu ihm gesellt sich in den folgenden eineinhalb Filmstunden noch eine Kuh. Dass ausserhalb dieses riesigen Naturgefängnisses etwas Schreckliches geschehen sein muss, erkennt «Die Frau» bald, denn im Lauf der Erkundung der unsichtbaren Wand sieht sie einmal einen versteinerten Mann und eine versteinerte Frau vor einem Bauernhaus sitzen. Es bleiben aus­ser der Protagonistin die einzigen menschlichen Gestalten in einem Film, in dem während einer vollen Spielfilmlänge die ­Natur, der Lauf der Jahreszeiten, die Berge, der Wald und die Tiere eigentliche Träger der Handlung sind – in einem Film der ­Superlative.

Das Buch galt als unverfilmbar

Und um einen solchen handelt es sich bei «Die Wand» in mehrfacher Hinsicht. Da ist etwa die Tatsache, dass an den – sich über 14 Monate erstreckenden – Dreharbeiten nicht weniger als 8 Kameraleute beteiligt waren. Darunter sind einige Newcomer, andererseits aber sind mit Christian Berger, dem Kameramann von Michael Haneke, und Martin Gschlacht, dem Kameramann von Grössen wie Shirin Neshat oder Barbara Albrecht, zwei grosse Österreicher vertreten, die auf ihrem Gebiet zu den Weltbesten gehören. Weiter ist ungewöhnlich, dass Julian Roman Pölsler über drei Jahre lang allein am Drehbuch arbeitete, und dies, wohlgemerkt, bei der Umsetzung einer Literaturvorlage – die allerdings, da nur aus dem inneren Monolog der Ich-Erzählerin bestehend, als unverfilmbar galt. Doch in der Art, wie die Off-Stimme zwischen Gegenwärtigem, Vergangenem und innerer Gedankenwelt wechselt, erschafft der Film zusammen mit den grandiosen Bildern eine stets präsente Spannung, die der in einem Thriller ebenbürtig ist.

Und dann ist da Martina Gedeck, bekannt aus zahlreichen deutschen Erfolgsfilmen wie etwa «Das Leben der Anderen» oder «Der Baader Meinhof Komplex», die hier eine wahre Bravourleistung vollbringt. Was von einem Menschen übrig bleibt, der plötzlich gezwungen ist, ohne menschliche Beziehungen zu leben, das macht die 50-jährige Schauspielerin mit ungeheurer Präsenz und unglaublichem Ausdrucksreichtum deutlich, der keinen Moment forciert oder unglaubwürdig wirkt. Man nimmt dieser Figur ganz selbstverständlich ab, dass ihr genau das widerfahren ist, was man da sieht, und die Tatsache, dass die Geschichte eigentlich ziemlich ereignisarm ist, vergisst man im Nu.

Man versteht mit diesem Film aber auch, dass der Roman «Die Wand» 1963 bei seinem Erscheinen seiner Zeit weit voraus war und nur mässig wahrgenommen wurde. Erst in den frühen 1980er-Jahren wurde er, zuerst von der Frauen- und dann auch von der Friedensbewegung, als Kultbuch gefeiert. Man kann in dieser Geschichte sowohl den radikalen Entwurf einer Emanzipation wie auch den Schrecken einer Apokalypse nach dem Atomkrieg sehen. Und man kann sich auch vorstellen, was passiert wäre, wenn Hollywood diesen Stoff verfilmt hätte.

* Geri Krebs ist freier Journalist und Filmkritiker in Zürich.

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