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Berauschendes Mysterienspiel

Filme aus Portugal finden selten den Weg in unsere Kinos, und wenn sie es schaffen, sind sie oft langsam und melancholisch. Solche Vorurteile widerlegt «Tabu» von Miguel Gomes – das an der Berlinale ausgezeichnete Werk ist etwas vom Originellsten im laufenden Kinojahr, und es ist darüber hinaus ein Film, der die Kolonialgeschichte reflektiert. 

«Jede Geschichte hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge» – dieses Bonmot von Altmeister Jean-Luc Godard könnte auch für «Tabu» gelten. Nach einem kurzen geheimnisvollen Prolog, der scheinbar nichts mit dem weiteren Verlauf des Films zu tun hat und in dem ein Krokodil eine wichtige Rolle spielt, beginnt die Geschichte mit einem Lebensabend.

Die etwa achtzigjährige Aurora (stark: die 1933 in Angola geborene Theaterschauspielerin Laura Soveral) ist eine exzentrische Frau, sie geht ab und zu ins Casino, sonst aber hat sie kaum mehr soziale Kontakte.

Doppelte geschichte

Sie lebt in einer tristen Blockwohnung am Stadtrand von Lissabon, und es gibt in diesen grauen Dezembertagen für die betagte Frau neben den Casinobesuchen nur noch ihre freundliche Nachbarin Pilar (Teresa Madruga) und ihre afrikanische Haushälterin Santa (Isabel Cardoso) in ihrem eintönigen Alltag. Der einen klagt Aurora unentwegt ihr Leid, der anderen macht sie das Leben schwer mit ihren Launen, und beide zusammen müssen sich das ewig gleiche Lamento anhören, dass ­Auroras Tochter sie nicht mehr besuchen kommt.

Als sie bald darauf stirbt, kommt die Nachbarin der Geschichte der alten Dame auf die Spur. Diese ist geprägt von einer ebenso vertrackten wie tragischen Liebesgeschichte in Afrika. Das war damals noch der Kontinent der Kolonien, und Portugal hatte bekanntlich ein riesiges Kolonialreich. Im Titel anspielend auf den letzten Film des grossen deutschen Stummfilmregisseurs Friedrich Wilhelm Murnau – der damals, 1931, sein Drama in der Südsee angesiedelt hatte –, ist Miguel Gomes’ «Tabu» eine ganz in makellosen Schwarzweissbildern gedrehte Doppelgeschichte von irritierender Schönheit und voller verwirrender Überraschungen.

Von dem aktuellen, vom Tod geprägten Geschehen des ersten Hauptteils driftet «Tabu» zur Welt der Vergangenheit und des menschlichen Erinnerungsvermögens, das seine Grenzen hat. Dabei funktionieren diese beiden (Haupt-)Teile eigentlich auch unabhängig voneinander, sie sind aber durch die politische Lage der Welt und durch unsere Gefühle als ZuschauerInnen dennoch miteinander verbunden. Die alte Dame ist geprägt von ihrer Vergangenheit als Tochter reicher Kolonialherren in Afrika, sie ist aber gleichzeitig auch eine Frau tiefer Gefühle.

Dieser zweite Hauptteil von «Tabu», ironisch betitelt mit «Paradise Lost» und gedreht in Moçambique und in Brasilien, entwickelt sich vor einer Geräuschkulisse und einer unentwegten Kommentatorenstimme, die sämtliche Gespräche vollständig überdeckt. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes und einer verheirateten Frau, die sich ineinander verlieben und die die Flucht planen in dieser kolonialen Welt am Vorabend des bewaffneten Aufstands der Afrikaner.

fast nicht von dieser welt

Dadurch, dass Gomes in diesem zentralen Afrika-Teil von «Tabu» jegliche direkten Gespräche entfernt, gibt es keine sentimentalen Dialoge – da kann die Liebesgeschichte noch so tragisch sein. Jeder und jede soll sich selbst vorstellen können, was gesagt wird in diesem bezaubernden Film, der fast nicht von dieser Welt zu sein scheint, fast so fern wie die Stimmen der Liebenden. Das sind Qualitäten, die man selten in einem Kinofilm findet.

Wer jetzt aber glaubt, dass «Tabu» ein todernstes Drama sei, kann beruhigt sein, denn auch Ironie kommt hier nicht zu kurz: «Glaubt nicht alles, was ihr in Filmen seht», sagte Mi­guel Gomes in einem Interview an der Berlinale. Dieser Satz kennzeichnet den Gestus dieses so aus­sergewöhnlichen wie schwer zu fassenden Werks wohl sehr treffend.

* Geri Krebs ist freier Journalist und Filmkritiker in Zürich.

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