Artikel

Chauffeurverordnung – Die Kleinen werden gehängt

  1. Ausgangslage
    Die Verordnung über die Arbeits- und Ruhezeit der berufsmässigen Motorfahrzeugführer und -führerinnen (Chauffeurverordnung, ARV 1) regelt die Arbeits-, Lenk- und Ruhezeit der gewerbsmässigen Chauffeusen und Chauffeure von Lastwagen und Bussen. Der primäre Regelungsbereich der ARV 1 sind zwar Lenk-, Arbeits- und Ruhezeiten. Sie stellt jedoch gemäss Gerichtspraxis keine umfassende Bestimmungen über den Arbeitnehmerschutz auf. Die ARV 1 dient in erster Linie der Verkehrssicherheit. Dennoch kommt ihr in den Bereichen Höchstarbeitszeit, Pausen sowie tägliche und wöchentliche Ruhezeiten die Funktion des Arbeitnehmerschutzes zu.

  2. (Nicht-)Anpassung an EU-Recht
    Die Chauffeurverordnung wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2011 an das EU-Recht angepasst. Dabei wurde die durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von 46 auf 48 Stunden angehoben. Die Übernahme von EU-Recht erfolgte aber nicht vollständig. In der Frage, wer für Verstösse gegen die ARV 1 hafte, wurde sie nicht angepasst. Nach wie vor wird heute in erster Linie der fehlbare Chauffeur und nicht der Arbeitgeber in die Verantwortung genommen.

    Die EU regelt dagegen die Haftung so, dass in erster Linie der Arbeitgeber für die Einhaltung der die Sozialvorschriften im Strassenverkehr verantwortlich ist (EU Nr. 561/2006):

    • „Das Verkehrsunternehmen organisiert die Arbeit der in Absatz 1 genannten Fahrer so, dass diese die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 sowie des Kapitels II der vorliegenden Verordnung einhalten können. Das Verkehrsunternehmen hat den Fahrer ordnungsgemäß anzuweisen und regelmäßig zu überprüfen, dass die Verordnung (EWG) Nr. 3821/85 und Kapitel II der vorliegenden Verordnung eingehalten werden.“

    In der Schweiz ist die Chauffeurverordnung eine Mischung aus Arbeitnehmerschutz und Strassenverkehrsregelung. Aus diesem Grund wird in der Praxis die ARV 1 nur bei den Chauffeuren – im Sinne einer Verkehrsregel – und nicht bei den Arbeitgebern und Vorgesetzten – im Sinne des Arbeitnehmerschutzes – durchgesetzt.

  3. Kritik der Gewerkschaften
    Aus Sicht der Gewerkschaften ist es stossend, dass in der Schweiz die Einhaltung des Arbeitnehmerschutzes an den Arbeitnehmer und nicht an den Arbeitgeber delegiert wird. Dies widerspricht dem allgemeinen Grundsatz des Arbeitnehmerschutzes in der Schweiz. Sowohl das Arbeitsgesetz wie auch das Arbeitszeitgesetz sehen vor, dass der Arbeitgeber für die Einhaltung von Höchstarbeitszeiten, Pausen und Ruhezeiten zu sorgen hat. Es kann bei Zuwiderhandlungen lediglich der Arbeitgeber zur Verantwortung gezogen werden.

    Die Gewerkschaften Unia, syndicom und sev wendeten sich im Vorfeld der Verordnungsanpassung an den damaligen Vorsteher des UVEK, Moritz Leuenberger. Sie forderten, dass der Bundesrat die strafrechtliche Verantwortung analog EU-Recht verschärfe, damit sichergestellt ist, dass bei ARV 1-Widerhandlungen nicht bloss die Chauffeure und Chauffeusen bestraft werden, sondern die weisungsbefugten Transportunternehmungen. Denn es sind in erster Linie die Arbeitgeber, die von Verletzungen der Arbeits- und Ruhezeitvorschriften profitieren.

  4. Empfehlung des UVEK an die Kantone
    Der Vorsteher des UVEK zeigte Verständnis für das Anliegen der Gewerkschaften, damit nicht in erster Linie der Chauffeur, das schwächste Glied in der Kette bestraft werde. Er stellte sich aber auf den Standpunkt, dass zuerst die Möglichkeiten des geltenden Rechtes ausgeschöpft werden müsse. Weil die ARV 1 die Arbeitnehmenden und die Arbeitgebenden in die Pflicht nehme, seien sowohl Kontrollen der Arbeits- und Ruhezeiten auf der Strasse als auch in den Betrieben vorzunehmen. Mit Schreiben vom 7. Juli 2010 forderte er die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren auf, die Kontrolltätikeit so vorzunehmen, dass auch anhand von Betriebskontrollen die Einhaltung der Arbeitgeberpflichten untersucht werde.

    Das UVEK verlangte deshalb von den Kantonen, die Unternehmen in Hinblick auf Art. 100 Ziffer 2 SVG zu überprüfen, d.h. es ist zu überprüfen, ob der Arbeitgeber oder Vorgesetzte den Motorfahrzeugführer zu einer ARV 1- Verletzung veranlasst bzw. nach seinen Möglichkeiten nicht verhindert. Nur so könne verhindert werden, dass die Unternehmen ihre Chauffeure nicht unter Druck setzen und ihnen zu knapp disponierte Fahrten auferlegen. Deshalb müsse in einer Betriebskontrolle über einen längeren Zeitraum kontrolliert werden. Der Bundesrat betonte: Auch wenn die für die Verzeigung des Arbeitgebers oder Vorgesetzten erforderlichen Abklärungen aufwändiger sind, darf dies kein Grund sein, um die Strafverfolgung auf den Chauffeur zu beschränken.

  5. Die Situation in den Kantonen
    In mehreren Kantonen wurden parlamentarische Anfragen über den Stand der Kontrollen und Verzeigungen eingereicht (ZH, BS, BL, SG, OW, LU). Es interessierte die kantonalen Parlamentarier, in wie weit die Empfehlung des UVEK tatsächlich ungesetzt wurde.

    Das Ergebnis ist ernüchternd. Nach wie vor wird die ARV 1 fast ausschliesslich bei den Motorfahrzeugführerinnen und -führer durchgesetzt. Selbst dort wo Betriebskontrollen intensiviert wurden, wurde primär der Chauffeur oder die Chauffeuse bei Verfehlungen bestraft.



    Aus allen Anfragen geht hervor, dass die Verstösse gegen die tägliche Ruhezeit sowie die täglichen Lenkzeit und Pausen am häufigsten verzeigt wurden.

    Offensichtlich wurde die Empfehlung des UVEK nicht berücksichtigt. Eine intensivierte Kontrolle der Arbeitgeber mittels Betriebskontrollen fand nicht statt. Es wird weiterhin der Chauffeur kontrolliert und für Widerhandlungen bestraft, unabhängig davon, ob er aufgrund der Vorgaben der Disposition und Weisung des Arbeitgebers handelte.

  6. Fazit
    Für die Missachtung des Arbeitnehmerschutzes wird im Strassentransport nach wie vor der (ungeschützte) Arbeitnehmer verantwortlich gemacht und gebüsst. Vor diesem Hintergrund erstaunt es auch nicht, dass die Arbeitgeber Verstösse gegen die ARV 1 als Kavaliersdelikt betrachten.

    Die Empfehlung des UVEK führte zu keiner Praxisänderung beim Vollzug der ARV 1. Die Empfehlung des UVEK, dass vor einer Änderung der ARV 1 zuerst die Möglichkeiten des geltenden Rechtes ausgeschöpft werden solle, hat zu keiner Verbesserung geführt.

    Aus Sicht des Gesundheitsschutzes, aber auch der Verkehrssicherheit ist der heutige Zustand unhaltbar. Es kann nicht sein, dass die Strafverfolgung sich auf die Chauffeure beschränkt, die eigentlich durch die Verordnung geschützt werden sollten! Es braucht eine eindeutige Regelung in der ARV 1, die den Arbeitgeber bezüglich Arbeits-, Lenk- und Ruhezeiten sowie Pausen in die Verantwortung nimmt.

    Entsprechende Vorstösse werden vorbereitet.

 

Informiert bleiben

Persönlich, rasch und direkt

Du willst wissen, wofür wir uns engagieren? Nimm Kontakt zu uns auf! Bei persönlichen Anliegen helfen dir unsere Regionalsektretär:innen gern weiter.

syndicom in deiner Nähe

In den Regionalsekretariaten findest du kompetente Beratung & Unterstützung

Jetzt Mitglied werden