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Der lange Weg zurück in den Betrieb

Der aktuelle OECD-Bericht «Psychische Gesundheit und Arbeit» zeigt, dass die Schweiz mehr dafür tun könnte, Menschen mit psychischen Erkrankungen in den Arbeitsmarkt zu integrieren oder im Arbeitsmarkt zu halten. 


2012 erschien der erste OECD-Bericht zum Thema psychische Gesundheit und Beschäftigung. Er beschrieb die Zusammenhänge zwischen psychischer Gesundheit, Arbeit und Invalidität in den OECD-Ländern. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Problematik noch kaum erforscht. Auf Basis der Erkenntnisse wurde die Situation in einzelnen Ländern analysiert.

Nun liegt der Bericht über die Schweiz vor. Der OECD-Bericht zeigt, dass die Schweiz, verglichen mit anderen OECD-Ländern, sehr gut dasteht. Die Arbeitslosenquote von Personen mit psychischen Störungen ist tief und die Armutsrate ebenfalls. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Schweiz die Anzahl der IV-Rentenbezüge infolge psychischer Krankheiten stärker zugenommen hat als die infolge anderer Invaliditätsrisiken und immer noch steigt: 40 Prozent aller IV-Leistungsbeziehenden erhalten die Leistung aufgrund einer psychischen Störung.

Untersucht haben die Autoren auch die Arbeitsbedingungen. Zwar sieht das Gesetz vor, dass sich die Arbeitgeber um den Schutz der Gesundheit (die psychische Gesundheit wird explizit erwähnt) ihrer Angestellten kümmern müssen. Handlungsanweisungen und Kontrollen gibt es aber nicht oder kaum. Da beschränkt man sich auf die leichter feststellbaren physischen Risiken. Führungskräfte fühlen sich schnell überfordert, wenn es um ­Arbeitnehmende mit psychischen Beeinträchtigungen geht, und «lösen» die Probleme durch Kündigung. Ausreichende Unterstützung und Informationen fehlen. Krankheitsmanagement am Arbeitsplatz gibt es nicht flächendeckend. Aufgrund der Früherkennungsmassnahmen der IV haben private Krankenversicherungen ihre Aktivitäten sogar abgebaut.

Doch die IV-Massnahmen nützen den Arbeitnehmenden mit psychischen Einschränkungen wenig, wenn die Arbeitgeber schlecht darüber informiert sind. Hinzu kommt, dass Menschen mit psychischen Störungen den Arbeitsplatz viel häufiger wechseln. Und weil sich die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall an den Dienstjahren orientiert, ziehen sie auch da den Kürzeren.

IV auf dem langen Weg in die richtige Richtung

Die IV bekommt gute Noten von der OECD. Sie habe einen Wechsel von der Rentenverwaltung zur Eingliederungsorientierung vollzogen. Allerdings müssten einige Leistungen noch flexibler gehandhabt werden. Die zeitliche Begrenzung einiger Massnahmen und das Erfordernis eines Berufsabschlusses für die Inanspruchnahme von Weiterbildungen sind gerade vor dem Hintergrund psychischer Störungen nicht förderlich. Erwähnt wird auch, dass die Pflichten der IV-BezügerInnen zugenommen haben und die Schwelle für den Anspruch auf IV-Leistungen angehoben wurde.

So müssen IV-Leistungen seit 2011 auf einer Krankheit mit klarer organischer Grundlage basieren. Gibt es diese nicht, ist die Person per Definition nicht (mehr) invalid und hat keinen Anspruch (mehr) auf IV-Leistungen. Bei psychischen Störungen gibt es nur IV-Leistungen, wenn anhand klinischer psychiatrischer Untersuchungen eine klare Diagnose gestellt werden kann, wie zum Beispiel bei Depressionen, Schizophrenie, Zwangs-, Ess-, Angst- und Persönlichkeitsstörungen.

Die typischen IV-BezügerInnen mit psychischen Störungen haben eine Persönlichkeitsstörung, eine Depression oder eine Somatisierungsstörung. Ihr Bildungsniveau ist niedrig, ebenso ihr Einkommen.

«Mitarbeiter mit Persönlichkeitsstörungen fallen am Arbeitsplatz als ‹schwierige Mitarbeiter› auf. Ihr problematisches Verhalten wird oft nicht als psychische Störung wahrgenommen. Deshalb wechseln sie häufig den Job, bis sie irgendwann arbeitslos werden. Während dieser Zeit hat sich die psychische Gesundheit oft weiter verschlechtert», meint David Scheid­egger von der GEWA-Stiftung für berufliche Integration. Je bescheidener der Bildungshintergrund der Betroffenen sei, desto schwieriger falle tendenziell eine erfolgreiche Eingliederung aus.

Die Früherfassung und Frühintervention der IV mit ihren auf Menschen mit psychischer Beeinträchtigung ausgerichteten Massnahmen hätten zwar Potenzial, aber nachhaltige Eingliederung bleibe schwierig: Der Verlauf von psychischen Krankheiten ist oft schwierig zu prognostizieren. Viele Arbeitgebende haben Angst vor Ausfällen und Kostenfolgen, wenn sie Menschen einstellen, die in der Vergangenheit von psychischen Problemen betroffen waren.

Von der ALV zur Sozialhilfe und/oder zur IV

In der Schweiz gelangen Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen häufig über die ALV und die Sozialhilfe zur IV. Das ist deshalb problematisch, weil eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt umso erfolgversprechender ist, je schneller sie in Angriff genommen wird. Um ein Hin- und Herschieben von einer Stelle zur anderen zu vermeiden, wurde die «Interinsti­tutionelle Zusammenarbeit» (IIZ) eingeführt und laufend den Gegebenheiten angepasst.

RAV-Beraterinnen überfordert

Zu denken gibt, dass das Bewusstsein für psychische Störungen bei den RAV sehr gering ist. Psychische Beeinträchtigungen werden nicht erfasst. Die BeraterInnen sind nicht ausgebildet für die Re­integration von Arbeitslosen mit psychischen Schwierigkeiten. Solche Klientel wird an die IV überwiesen, die ihrerseits nur Personen mit erheblichen psychischen Störungen in ihre Massnahmen aufnimmt. Wer psychisch angeschlagen ist und mit wenig Aufwand und Unterstützung wieder fit werden könnte für den Arbeitsmarkt, fällt durch die Maschen. Solchen Menschen wird erst geholfen, wenn sie krank genug sind. Der Aufwand für eine erfolgreiche Wiedereingliederung ist dann erheblich grösser.

Psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung mit Lücken

Das Gesundheitssystem der Schweiz funktioniert gut, auch die Versorgung mit ärztlicher Psychotherapie. Allerdings wird der Behandlung von schweren psychischen Störungen viel mehr Beachtung geschenkt als der Behandlung von leichten, obwohl gerade das Eingliederungspotenzial bei Letzteren sehr viel grösser wäre.

Und da fördert die Studie ein weiteres Problem zutage: Im Allgemeinen fokussieren Ärztinnen und Ärzte zu stark auf das medizinische Problem. Es gibt praktisch keine eingliederungsorientierten Behandlungen. Die starke Ausrichtung auf stationäre Behandlungen ohne Kontakt zur Arbeitswelt macht den Wiedereinstieg noch schwieriger. Selten kontaktiert ein Psychiater einen Arbeitgeber. Auch Tageskliniken sind nicht auf die berufliche Integration ausgerichtet und beschäftigen in der Regel keine SpezialistInnen für Eingliederung.

Fortschritte bei der Jugendpsychiatrie

Je früher eine psychische Störung erkannt wird, desto grösser ist die Chance, sie erfolgreich zu behandeln, das gilt auch für Kinder und Jugendliche. Vor allem der Übergang von der Schule in die Berufswelt muss gut begleitet werden. In den letzten Jahren hat sich die Strategie der IV bezüglich jugendlicher Betroffener stark geändert: es wird sehr viel versucht, um sie im Arbeitsmarkt zu integrieren.

Eingliederungs-
massnahmen

Die Studie der OECD schlägt konkrete Massnahmen vor. So sollen den Betrieben bessere Instru­mente zur Verfügung gestellt werden. Die finanziellen Anreize sollen verstärkt werden. Die IV möge sich auf arbeitsplatzbezogene Frühintervention konzentrieren, damit die Versicherten nicht erst Sondereinrichtungen durchlaufen müssen und die Gefahr besteht, dass sie dort hängen bleiben.

Die Abklärungen müssten multidisziplinär werden, was heisst, dass nicht nur eine medizinische, sondern auch eine berufliche Abklärung getätigt werden soll.

Arbeit müsse lohnenswert werden. Schwelleneffekte, wie sie beispielsweise im IV-Rentensystem vorkommen, sollen beseitigt werden. RAV und Sozialdienste sollen psychische Probleme identifizieren und ihre Klientel im Umgang damit unterstützen.

Auch das Gesundheitswesen solle als Partner in die Interinstitutionelle Zusammenarbeit aufgenommen werden. Psychiaterinnen und Psychiater müssten mit den Betrieben zusammenarbeiten, auf ambulante Behandlung setzen und vermehrt auch Personen mit leichten psychischen Beeinträchtigungen behandeln. Die Schulen sollten besser informiert werden, wie sie Schülerinnen und Schüler mit psychischen Gesundheitsproblemen unterstützen können. Eine frühe Berentung möge durch Arbeitsanreize vermieden werden. Bleibt abzuwarten, was die Politik mit diesen Erkenntnissen anfängt.

Dieser Artikel erschien erstmals in «agile – Behinderung und Politik» 2/2014. Überarbeitung GEWA und syndicom-Redaktion.

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