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Die Gewerkschaft darf in die Betriebe

Das Bezirksgericht Bülach bestätigte kürzlich das Zutrittsrecht der Unia auf einer Baustelle im Kanton Zürich. Auf dieses Urteil können sich die Schweizer Gewerkschaften stützen. Für die Arbeitgeber wird es schwieriger, die Gewerkschaften zu kriminalisieren und bei ihrer Arbeit zu behindern. 

 

Strafanzeigen wegen Hausfriedensbruchs sind ein grosses Problem für GewerkschaftssekretärInnen. Im Vorfeld von Protestaktionen besuchen sie die Betriebe, um die ArbeiterInnen über den aktuellen Stand von Vertragsverhandlungen zu informieren und für Kundgebungen zu mobilisieren. Andere Besuche dienen der Überprüfung der vertraglich ausgehandelten Lohn-, Sicherheits- oder Gesundheitsbestimmungen. Kommen die Chefs, geben die GewerkschafterInnen in der Regel ihre Personalien an, manchmal werden sie dann aber trotz der in der Verfassung festgehaltenen Gewerkschaftsrechte angezeigt. So geschehen in Bülach.

Nach Baustellenbesuchen der Unia zwischen November 2011 und Juni 2012 hatten zwei Baufirmen sowie ein Hotelbesitzer Anzeige erstattet. Die FunktionärInnen hätten die Baustelle nach Aufforderung der Bauleitung nicht verlassen bzw. gegen ein schon bestehen­des Hausverbot verstos­sen, heisst es in der Anklageschrift. Der erste der Besuche fand am 25. November 2011 statt: später an diesem Tag sollte es eine schweizweite Protestaktion geben, an der schliesslich über 7000 BauarbeiterInnen teilnahmen. Grund des Protests war u. a. ein abrupter Verhandlungsabbruch der Arbeitgeber.

Zu diesem Zeitpunkt hatte man bereits neun Monate lang über einen neuen Landesmantelvertrag verhandelt – der bisherige lief aus. Doch am 2. November liessen die Baumeister die Verhandlungen kurzerhand platzen – es drohte ein vertragsfreier Zustand.

«Der Landesmantelvertrag ist einer der wichtigsten ­Verträge, die es im Bauhauptgewerbe überhaupt gibt», sagte einer der fünf angezeigten Unia-Gewerkschafter vor Gericht. «Es ist eine Kernaufgabe der Gewerkschaften, sich kollektiv zu wehren, den Gesamtarbeitsvertrag zu verteidigen und sich für geregelte Arbeitsbedingungen einzusetzen. Immerhin ging es dabei um die Arbeitsbedingungen von gut 90 000 Bauarbeitern.»

Koalitionsfreiheit in Gefahr

Die grosse Mehrheit aller Besuche auf Baustellen verläuft offenbar routinemässig und problemfrei. Das Zutrittsrecht wird ohne Widerstand gewährt, und Strafanzeigen in diesem Zusammenhang sind die Ausnahme. Das Klima habe sich aber verschlechtert: «Wir beobachten mehr Dumpinglöhne und Betrug von Sozialversicherungen. Entsprechend hat auch die Zahl der Hausverbote und Anzeigen wieder etwas zugenommen, das geht Hand in Hand», sagt Luca Cirigliano vom SGB.

Könnten Arbeitgeber nach Gutdünken Hausverbote und Anzeigen wegen Hausfriedensbruch durchsetzen, würde dies die gewerkschaftliche Arbeit in einem Mass beeinträchtigen, das nicht mit der in der Bundesverfassung festgeschriebenen Koalitionsfreiheit verträglich wäre, argumentiert der Verteidiger der Unia-FunktionärInnen in seinem Schlussplädoyer vor dem Bezirksgericht Bülach: «Das Hausverbot ist die unrechtmäs­sige Vereitelung berechtigter Interessen.»

Ein im Auftrag des SGB erstelltes Gutachten von Strafrechtsprofessor Marcel Niggli drückt es so aus: «Häufig werden Hausverbote gegenüber Gewerkschaftsfunktionären erst dann ausgesprochen, wenn Verletzungen der Mindestarbeitsbedingungen oder von Sicherheitsvorschriften festgestellt werden.» Gerade bei Schwarzarbeit und Dumpinglöhnen gibt es selten schriftliche Dokumente, ein Verdacht kann also nur im direkten Kontakt mit den Betroffenen geprüft werden.

Das Interesse an der Durchsetzung des GAV überwiege das Interesse des Hausrechts klar, schliesst das Gutachten von Marcel Niggli, und GewerkschafterInnen dürften in Ausübung der Verfassungsrechte eine Baustelle auch gegen den Willen des Baumeisters betreten.

Der «Fall Chevrier»

Nigglis Gutachten widerspricht mit dieser Auffassung einem Urteil des Bundesgerichts von 2012 im sogenannten Fall Chevrier. So wird eine Aktion von GewerkschaftssekretärInnen bezeichnet, die 2009 im Restaurant Domaine de Châteauvieux (Monsieur Chevrier ist der Chefkoch) die Angestellten über die Änderungen im Landes-Gesamtarbeitsvertrag des Gastgewerbes informieren wollten. Die RestaurantbetreiberInnen schickten sie weg und erteilten ihnen per E-Mail ein Hausverbot, das auch den Parkplatz mit einschloss. Wochen später klemmten die GewerkschafterInnen auf dem Parkplatz den Autos von Gästen und Angestellten Flyer zu den Neuerungen im Landes-GAV unter die Scheibenwischer und verliessen das Grundstück erst nach Eintreffen der Polizei.

Da es sich laut Bundesgericht nicht um Fragen im Zusammenhang mit einem Streik gehandelt habe, sei das Hausverbot rechtmäs­sig. Marcel Niggli kritisiert die Auslegung des Bundesgerichts und bezieht sich auf die Koalitionsfreiheit: Diese kann im Streikfall als Rechtfertigung für den Hausfriedensbruch dienen. Wenn das Streikrecht geschützt sei, müssten auch die milderen Vorstufen des Streiks und allfällige Vorbereitungshandlungen, wie eben die Information und Mobilisierung von Angestellten, von der Koalitionsfreiheit erfasst sein. «Der Sinn der Koalitionsfreiheit ist es, dass die strukturell unterlegenen Arbeitnehmer durch die Bündelung ihrer Kräfte in Form von Gewerkschaften den Schutz ihrer Interessen verfolgen können.»

Freispruch für Gewerkschafterinnen

So lautete auch das Fazit des Verteidigers der fünf Unia-FunktionärInnen vor dem Bezirksgericht Bülach: «Die Beschuldigten haben ihre Rechte wahrgenommen – und dafür können sie nicht bestraft werden.»

Schliesslich sind alle freigesprochen worden. «Mit dem Urteil ist der Versuch der Kläger, die Gewerkschaftsarbeit zu kriminalisieren, gescheitert», sagt Pepo Hofstetter, Kommunikationsverantwortlicher der Unia. Die Staatsanwaltschaft sowie mindestens eine Klägerpartei haben jedoch Berufung eingelegt. Nun muss das Bezirksgericht eine schriftliche Urteilsbegründung vorlegen; danach kann die Klägerschaft ans Obergericht gelangen.

Ersterscheinung in der WOZ vom 28. 8. und 18. 9. (Nachtrag)

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