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Die Gewerkschaften im Online-Zeitalter

Arbeitnehmende und Gewerkschaften sind Angriffen ausgesetzt. Vereinigungsfreiheit, Streikrecht und Recht auf Kollektiv­verhand­lung stehen unter Beschuss. Der Krieg über unseren Köpfen zeigt sich nicht nur am Verlust von Arbeitsplätzen, Rechten und Sozialleistungen. Die Demokratie wird hart getroffen, und der soziale Graben vertieft sich. Was ist zu tun? Wie können und müssen die Gewerkschaften in den Zeiten von «Industrie 4.0» vorgehen? Kurzfassung des Redebeitrags von Javier Carles*.

 

80% der Mitglieder von UNI Graphik und Verpackung befinden sich in Europa. Es ist nicht verwunderlich, dass die Mitglieder­zahlen sinken, da die Produktion der grafischen Industrie auf dem Kontinent seit 2000 um 25% zurückgegangen ist und die Beschäftigung um 35%. Mit den Veränderungen im Weltmarkt und der Roboterisierung sind wir bis jetzt als Gewerkschaften nicht gut genug umgegangen. Doch die Industrie 4.0 ist auch eine Chance für die Gewerkschaften: Diese müssen wir unbedingt packen, wollen wir überleben und die Arbeitnehmenden weiterhin adäquat unterstützen.

Wir gewährleisten «nur» die Rechte der Angestellten

UNI Global Union stellt sich weder gegen die digitale Wirtschaft noch gegen die neuen Arbeitswelten, die sich abzeichnen. Unsere Aufgabe ist, die Rechte der Arbeitnehmenden zu gewährleisten – gerechte Löhne und Arbeitsbedingungen. Wie geht das in einem flexibilisierten, hypermobilen Arbeitsmarkt, wo die Arbeitnehmenden sich zwischen verschiedenen Stellen und Arbeitsorten hin und her bewegen? Wie geht das in einem Arbeitsmarkt, der bald nur noch aus hochqualifizierten Arbeitskräften einerseits und unqualifizierten Arbeitskräften ohne Ausbildung andererseits besteht?

Überlebenshilfen für ein feindliches Biotop

So sieht die Zukunft aus: mandats- statt stellenorientierter Arbeitsmarkt, Verletzungen der Privatsphäre, Überstunden, zu hohe Arbeitslast und zu viel Stress. Weitere Risiken sind das Abwälzen der Unternehmer-Verantwortung, das Absinken der Arbeits- und Lohnstandards, das Aushungern des Sozialversicherungssystems, die zersplitterte Gesellschaft.

Wir akzeptieren keinen flexiblen Arbeitsmarkt ohne Sicherheit für die Arbeitnehmenden – und schlagen deshalb erstens ein mobiles Sozialleistungssystem vor, das die arbeitende Person von einer Stelle zur nächsten oder von einem Mandat zum nächsten begleitet, unabhängig von der Plattform, der Anstellungsdauer oder anderem.

Wenn zweitens eine permanente Auffrischung der Kompetenzen erforderlich ist, dann muss sie für alle in allen Beschäftigungsformen gewährleistet sein! Nur ein nationales Berufsbildungssystem kann dies schaffen. Die Unternehmen müssen das System über ihre Steuern mittragen. Die neue Online-Wirtschaft soll dieselben Standards wahren wie die Offline-Wirtschaft.

Wo fangen wir an? Bei unseren Gewerkschaften! Der wichtigste Punkt ist die Anpassung unserer Organisation. Es genügt nicht, die Phänomene zu verstehen und uns zu positionieren – wir müssen versuchen, Industrie 4.0 für uns zum Guten zu wenden.

Verstehen genügt nicht

Wir brauchen daher drittens Onlinekommunikation, um uns mit den Arbeitnehmenden zu vernetzen und zu verstehen, wie sie denken und fühlen. Flexibilität und Mobilität der Arbeitnehmenden müssen mit der Mobilität und Flexibilität unserer Organisation einhergehen! Nur so können wir das Geschehen verfolgen und die Leute begleiten und integrieren, egal, wo, was und für wen sie arbeiten.

In Grossbetrieben bleibt die Personalvertretung tauglich. Aber für die Einbindung von Leuten, die auf Online-Plattformen oder in Betrieben mit unter fünf Gewerkschaftsmitgliedern tätig sind, funktioniert Vernetzung besser. 90% der grafischen Betriebe in Europa beschäftigen weniger als 10 Personen. Da brauchen wir Online-Anlaufstellen, damit man Kontakt mit der Gewerkschaft aufnehmen, Informationen abrufen und diskutieren kann.

Soziale Identität erhalten oder erst aufbauen

In Zeiten der Arbeitsindividualisierung und der sozialen Zersplitterung wird die Gewerkschaft wieder eine wichtige soziale Integratorin. Für viele ist sie womöglich das einzige soziale Umfeld, dem sie angehören und mit dem sie sich identifizieren. Alten, langjährigen Mitgliedern kann die Gewerkschaft natürlich und notwendig erscheinen, aber wir wissen, dass das bei Jugendlichen nicht so ist. Wir müssen ihre Gedanken, Ängste und Hoffnungen kennenlernen, und dazu müssen wir online tätig sein.

* Javier Carles leitet die Abt. Grafische Industrie und ­Verpackung bei der Weltgewerkschaft UNI.

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