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Die letzten Tage in Schlieren

Die Maschinen von NZZ Print könnten vor lauter Aufträgen Tag und Nacht weiterrotieren. Nun aber wird der Betrieb geschlossen und die gesamte Belegschaft vor die Tür gestellt. 

 

syndicom-Mitglied Thierry Grandchamp scheint bestens gelaunt an diesem Freitagabend. Er begrüsst mich vor dem Seiteneingang des NZZ-Print-Gebäudes in Schlieren, gleich neben den Bahngleisen. Grandchamp ist einer der 125 MitarbeiterInnen, die bis Ende Juni ihre Garderobenkästen für immer räumen müssen. Seit dem Schliessungsentscheid der NZZ-Unternehmensleitung im Februar dieses Jahres sind die Aufträge des florierenden Unternehmens sukzessive heruntergefahren worden.

Wie viele seiner Kolleg­Innen arbeitet der 44-jährige Grandchamp seit Jahren in Schlieren. 1988 hatte er als Druckerlehrling bei NZZ Print begonnen. In all den Jahren im Betrieb erlebte er die Entwicklung der verschiedenen Rotationsdruckverfahren vom Hoch- bis zum Offsetdruck – und gestaltete sie mit.

Begehrte MitarbeiterInnen

Es ist an diesem Abend das viertletzte Mal, dass der Drucktechnologe in Schlieren eine Nachtschicht antritt. Und doch ist Grandchamp, der seit seiner Lehre gewerkschaftlich engagiert ist (zuerst im Lithografenbund, dann in der Comedia und seit 2011 bei syndicom), erleichtert: Bis auf vier haben alle der 73 MitarbeiterInnen in der Produktion, die noch zu jung sind, um wie 33 ältere KollegInnen frühpensioniert zu werden, eine neue Stelle gefunden: «Es hat sich gezeigt, dass NZZ-Print-Mitarbeiter in der Branche einen guten Ruf haben. Auch von den Nicht-Gelernten haben die meisten eine Stelle in einer Druckerei gefunden.» Grandchamp selbst hat in Volketswil, nur wenige Autominuten von seiner Wohnung entfernt, eine Stelle in einem Tiefdruckverpackungsunternehmen gefunden.

Tag für Tag wird es stiller in den Gängen und Räumen. Bis Ende Juni, wenn die letzten Bögen gedruckt werden, wird es noch gespenstischer werden.

Der Protest von NZZ-Mitarbeiter­Innen (mit Unterstützung von Medienschaffenden und solidarisch Verbündeten) gegen den im November angekündigten Schliessungsentscheid scheint die Unternehmensleitung doch beeindruckt zu haben, zu­mindest so weit, dass sie sich zusammen mit den Sozialpartnern zu einem vergleichsweise guten Sozialplan durchgerungen hat. Ansonsten hätte der Abbau nicht derart störungsfrei über die Bühne gehen können: Die Gefahr eines Streiks und einer nachhaltigen medialen Rufschädigung des Gesamtunternehmens wäre zu gross gewesen. Immerhin besteht etwa die Hälfte der Belegschaft aus ­Gewerkschaftsmitgliedern.

«Mit recht hohen Abgangsentschädigungen wollte die Unternehmensleitung sicherstellen, dass kein längerer Arbeitskampf entsteht. Der Widerstand gegen die Schliessung hielt sich darum in Grenzen», bestätigt syndicom-Regionalsekretär Dominik Dietrich. Je nach Dienstalter seien mehrere Monatslöhne plus Schichtzulagen ausbezahlt worden.

«Einen so guten Sozialplan hat es in der grafischen Branche in den letzten zwanzig Jahren kaum gegeben», sagt auch Grandchamp. «Das heisst aber nach wie vor nicht, dass die Schliessung für uns nachvollziehbar ist», betont Dietrich, der selbst jahrelang als Drucker gearbeitet hat und sich mit ­syndicom im Rahmen eines ­Konsultationsverfahrens bis zum definitiven Entscheid im Februar vehement für die Weiterführung des Betriebs eingesetzt hat.

Unnötige Schliessung

Die Betriebskommission legte in ihrem Bericht im Januar detailliert dar, weshalb eine Schliessung «betriebswirtschaftlich unnötig und strategisch falsch» sei. Den Preis zahlt die ganze Branche: Die Schliessung ist ein schlechtes Signal für die grafische Industrie.»

Dietrich ist froh, dass die meisten MitarbeiterInnen bereits Anschlusslösungen gefunden haben: «Am schwierigsten war es für Ungelernte, eine neue Stelle zu finden.» Insgesamt sei man bei der NZZ Print «mit einem blauen Auge davongekommen», bilanziert Dietrich.

«Bei Swiss Printers, der ehemaligen Druckerei des «St. Galler Tagblatts, die ebenfalls zur NZZ-Gruppe gehört, war es viel schlimmer.» Ende 2011 wurden dabei in Zürich und St. Gallen über 300 MitarbeiterInnen auf die Strasse gestellt. «Ich habe Kollegen», so Dietrich, «mit denen ich in St. Gallen als Drucker zusammengearbeitet habe und die inzwischen ausgesteuert sind.»

Hohe Abfindungen, Weiterbildungsbeiträge, Unterstützung bei der Stellensuche: All das ändert nichts daran, dass es unternehmerisch verantwortungslos ist, einen solchen Betrieb zu schliessen. Die Strategie der Unternehmensleitung, die dahintersteckt, ist so simpel wie zynisch: Einziges Ziel der NZZ ist es, mit der Opferung des Zeitungsdrucks das operative Ergebnis der Gruppe «um jährlich einen hohen einstelligen Millionenbetrag» zu verbessern.

Jede Woche Abschiedstränen

«Seit Jahren ist in der NZZ Print niemand entlassen worden. Die vielen langjährigen MitarbeiterInnen bildeten ein perfekt eingespieltes Team. Und die Identifikation mit dem Betrieb war überdurchschnittlich hoch», sagt Grandchamp. Er wirft einen Blick auf die Uhr. Wenige Minuten noch bis zur Nachtschicht. Jetzt erst, in diesen paar Sekunden des Schweigens, ist Trauer spürbar. «Am meisten wird mir wohl die Teamatmosphäre fehlen», sagt Grandchamp. «So ein Zusammenhalt: So etwas gibt es heute fast nicht mehr – das ist, wie wenn man eine Familie auseinanderreisst.» Schliesslich greift Thierry zur Türklinke. «Jede Woche Abschiedstränen», sagt er. Und lacht. «Wir sind schon eine fröhliche Multikultitruppe», sagt er zum Abschied. «Hier ein Australier, dort ein Amerikaner – und dort drüben, schau: Da kommt ein Aargauer!» Und schon ist Grandchamp im Gebäude verschwunden.

Wenig später ist ein mächtiges Dröhnen zu hören. Während die 120 Tonnen schwere, 68 Meter lange und 13 Meter hohe Hochleistungsmaschine rotiert und rattert und die 124 000 Exemplare über die Rollenwechsler, Drucktürme und durch die Wendestrasse in die Falzapparate jagt. Da regiert sie wieder, als würde es ewig so weitergehen: die Gegenwartsform. Alles ist voll auf Kurs.

Die ungekürzte Originalversion dieses Beitrags erschien am 25. Juni in der WOZ,

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