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Die Malaise der Postangestellten

Eine englische Zeitschrift hat eine Studie veröffentlicht, welche die Auswirkungen der Konkurrenz auf dem Postmarkt auf die betroffenen Menschen in mehreren Ländern der Europäischen Union aufzeigt. 


Bretagne, im März 2010: Innert drei Wochen begehen zwei Angestellte der französischen Post Selbstmord. Die Zeugenaussagen lassen keine Zweifel zu: Bei dieser doppelten Tragödie handelt es sich nicht um einen Zufall. Die beiden Opfer beklagten sich seit Monaten über die Arbeitsbedingungen: Stress, Überstunden, prekäre Verhältnisse. Dazu das diffuse Gefühl, dass die geleistete Arbeit überhaupt nicht mehr geschätzt wird.
Unter dem Druck der Medien beschliesst das Unternehmen, einen «sozialen Mediator» zu ernennen, der die Verbindung zwischen der Unternehmensleitung und der Basis herstellen soll. So soll versucht werden, präventiv das Unbehagen der französischen Postangestellten weiterzuleiten – ein minimaler «Sozialdienst».


Diese Malaise befällt in der EU nicht nur die Postangestellten in Frankreich. Der «Courrier international» (Nr. 1103/1104) druckte jüngst eine in der «London Review of Books» erschienene Studie ab, deren Inhalt die Haare zu Berg stehen lässt. Im Zusammenhang mit den Vorbereitungen der britischen Post auf die Privatisierung im Jahr 2013 reiste der Autor in die Niederlande, wo die Liberalisierung der Postsortierung und -verteilung am weitesten fortgeschritten ist. Nachfolgend eine kurze Zusammenfassung.


James Meek, der Verfasser des Berichts und ein bedeutender Journalist und Autor, verfolgte einen normalen Arbeitstag einer Niederländerin, die für zwei Privatunternehmen zu Hause Briefe, Magazine und Kataloge sortiert und sie anschliessend austrägt. Wegen mangelnder Unterstützung und fehlender Mittel ist ihr die Arbeit über den Kopf gewachsen. In ihrer Wohnung stapeln sich über 60 Boxen mit Post, die längst hätte ausgeliefert werden müssen. Die Beschreibung von Meek verschlägt einem die Sprache: «Ich habe zugesehen, wie unsere Pöstlerin die Post in ihrer Küche sortiert. Sie verteilte sie auf Stapel auf dem Abtropfbrett des Spülbeckens, das sie nach dem Abwasch des Geschirrs vom Vorabend säuberlich getrocknet hatte. Den grössten Posten machten Ikea-Kataloge aus mit raffiniert beleuchteten Möbeln aus hellem, warmem Holz auf dem Titelbild. Aber ein Möbel für die Postsortierung findet sich in diesem Katalog nicht.»


Personal zahlt die Zeche

In den Niederlanden liefern sich die privaten Anbieter einen Krieg bis aufs Messer, laut James Meek hauptsächlich auf dem Buckel der Angestellten, deren Arbeitsbedingungen immer prekärer werden, wie jene dieser Briefträgerin: «Sie selbst schätzt ihre Arbeitszeit für die beiden Unternehmen auf rund 30 Stunden pro Woche für rund fünf Euro pro Stunde. Der Mindestlohn in den Niederlanden liegt bei acht bis neun Euro pro Stunde. Sie hat keinen Vertrag. Sie hat kein Anrecht auf Krankheitsurlaub, sie leistet keine Beiträge an die Renten- und Krankenversicherung. Eines der beiden Unternehmen gewährt ihr hin und wieder einen bezahlten Urlaubstag (…), stellt eine Jacke und ein Sweatshirt zur Verfügung, nicht aber Arbeitsschuhe. Den Unterhalt ihres Velos muss sie aus der eigenen Tasche bezahlen. (…) Die privaten Postgesellschaften sorgen dafür, dass der Inhalt der Postsäcke für die Briefträger und Briefträgerinnen nie so gross wird, dass sie über 580 Euro im Monat verdienen – sonst wären sie gesetzlich dazu verpflichtet, diese Leute mit festen Arbeitsverträgen einzustellen.»


Der Bericht über die Auswirkungen der Privatisierung des niederländischen Postmarktes auf die Betroffenen ist eine Auftragsarbeit und deshalb mit Vorsicht zu geniessen; sie lässt sich nicht so einfach auf andere Länder übertragen. Aber ein Satz des Verfassers bleibt hängen: «Der Postmarkt wurde liberalisiert im Namen der Konsumenten. So nennt man jetzt die ehemaligen Bürger von Europa», schreibt James Meek. Und oft geht dies zulasten der Postangestellten, die immer mehr unter Druck geraten und prekarisiert werden. Mit dem Risiko, dabei den Lebensmut zu verlieren.


Mohamed Hamdaoui, Leiter Kommunikation

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