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«Die Ratte in Europas Labor»

Zum ersten Mal in der Geschichte ist die Zahl der Menschen in Griechenland ohne Arbeit höher als jene mit Arbeit. Das ist auch das Werk der europäischen Geldgeber, sagt Gewerkschafter Apostolos Kapsalis.

 

Vor zwei Jahren fand der griechische Arbeitsrechtler Apostolos Kapsalis ein drastisches Bild für den Abbau der Rechte von Beschäftigten und Gewerkschaften, den die europäischen Geldgeber in Griechenland durchsetzten: «Unser Land ist die Ratte im europäischen Reformlabor», sagte er. Und: «Hier wird geprüft, was an Abbau geht.» Kapsalis arbeitete damals im Forschungs­institut des grössten griechischen Gewerkschaftsbundes, des GSEE. Und war in dieser Funktion direkt konfrontiert mit den Massnahmen, die die Troika (also die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank und der IWF) der Regierung in Athen diktierte. Dazu gehörten:

  • Verbot von GAV-Verhandlungen über Lohnerhöhungen
  • Senkung des Mindestlohns,
  • Beschränkung des Streikrechts,
  • Heraufsetzung des Renten­alters.

Und nicht zuletzt verlangte die Troika die finanzielle Austrocknung der Gewerkschaften. Sie waren neben den Mitgliederbeiträgen aus einem Fonds gespeist worden, in den alle Beschäftigten des Landes einzahlen mussten. Die Troika erzwang nicht nur, dass die Beiträge an diesen Fonds halbiert wurden, sondern auch, dass die Behörde, welche die Mittel an die Gewerkschaften verteilte, ganz aufgelöst wurde.

Nach dem Wahlsieg von Alexis Tsipras und der Linken wechselte Apostolos Kapsalis diesen Monat von der Gewerkschaft ins Arbeitsministerium. Dort soll er aufräumen, was Brüssel mit seinen «Hilfsprogrammen» zerstörte. Babis Ganotis von der deutschen Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hat mit Kapsalis gesprochen.

Welche Folgen hatte das Diktat der Troika für das ­Arbeitsrecht und die Gewerkschaften?

Apostolos Kapsalis: Als Bedingung für die Finanzhilfen musste Griechenland mehr als 90 Prozent des kollektiven Vertrags- und Arbeitsrechts abschaffen. Bis 2009 hatten wir zum Beispiel das Recht auf die Verhandlung von Gesamtarbeitsverträgen. Das haben wir heute nicht mehr. Für eine Gewerkschaft ist es heute so gut wie unmöglich, mit den Arbeitgebern einen Gesamtarbeitsvertrag auszuhandeln. 98 Prozent der Unternehmen haben nur zehn bis zwölf Beschäftigte, wir haben keine Kultur der Branchengewerkschaften, und ausserdem wurden unsere rechtlichen Möglichkeiten so zusammengestrichen, dass wir gegenüber den Arbeitgebern keine wirkliche Verhandlungsmacht mehr haben.

Mit der Konsequenz, dass es derzeit ­faktisch keine kollektiven Arbeitsverträge mehr gibt?

In den Betrieben können jetzt noch 60 Prozent der Beschäftigten eine Verhandlungskommission gründen, die mit dem Arbeitgeber einen Haustarifvertrag ab­schliessen kann. Meist geschieht das auf Initiative des Arbeitgebers. Dann heisst es oft: Unterschreibt, oder ich entlasse euch. Hier stehen eure Namen und die Lohnsenkung von 25 bis 30 Prozent.

Die linke Syriza-Regierung will das Arbeitsrecht und die Vertrags­autonomie der Sozialpartnerinnen wiederherstellen. Sie will auch den Mindestlohn wieder auf das Niveau von 2009 anheben. Ist das zu schaffen?

Schrittweise, ja. Die Regierung wird Gesetze verabschieden, um wieder gewerkschaftliche Lohn- und Vertragsverhandlungen zu ermöglichen. In den letzten Jahren haben wir eine Katastrophe erlebt. Die Arbeitslosigkeit der Jugendlichen liegt bei 55 Prozent. Wir haben eine Million Beschäftigte, die teilweise seit mehr als einem Jahr auf ihren Lohn warten. Viele kleine Betriebe würden einen sofortigen Anstieg des Mindestlohns auf das Niveau von 2009 nicht verkraften. Die Folge wäre, dass die Hälfte aller noch Beschäftigten ihre Arbeit verlieren würden. Es käme ausserdem zu einem Anstieg der Schwarz­arbeit.

Griechenland ist praktisch zerstört worden. Zum ersten Mal ist die Zahl der nicht arbeitenden Menschen grösser als die der arbeitenden. Das müssen wir ändern.

Wo steht die griechische Gewerkschaftsbewegung heute?

Die Schwäche der Gewerkschaften liegt in ihrer Zersplitterung: Wir haben 4000 Organisationen. Das ist der Weltrekord, gemessen an der Bevölkerung und der Zahl der Beschäftigten. Was wir brauchen, sind nicht all diese Basis-, Betriebs- und regionalen Branchengewerkschaften, die zudem oft noch an einzelne Parteien gebunden sind, sondern höchstens fünf bis sechs grosse und starke Branchengewerkschaften für das ganze Land.

Dieser Beitrag erschien zuerst in «work» vom 20. März.

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