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«Es ist ein Privileg, sein Engagement zum Beruf machen zu können»

Ende Februar hat Alain Carrupt sein Amt als Präsident von syndicom abgegeben. Mehr als 30 Jahre engagierte er sich für die Gewerkschaften – zuerst ehrenamtlich, dann ab 1994 als Profi. Jetzt zieht er sich langsam zurück, reduziert mit Rücksicht auf seine Gesundheit das Pensum und übernimmt andere Aufgaben. Die syndicom-Zeitung sprach mit Alain Carrupt über sein gewerkschaft­liches Selbstverständnis, seine Erinnerungen, die Aufteilung der PTT und die Zukunft von syndicom. 

 

An welche Momente in deiner Karriere denkst du gerne zurück? Welche Momente waren schwierig?

Alain Carrupt: Die Gewerkschaftsarbeit ist hart. Man muss viel einstecken und erlebt schwierige Momente. Aber sie ist in menschlicher Hinsicht auch eine ständige Bereicherung. Ich habe es immer als Privileg betrachtet, mein Engagement zum Beruf machen zu können. In schwierigen Momenten habe ich mich immer an diese Chance erinnert. Ich denke gerne zurück an die unzähligen Begegnungen, Gespräche und gemeinsamen Emotionen und an die Solidarität, die vor allem bei den Streiks spürbar wurde.
Der schwierigste Moment war die Ankündigung des Abbaus von 6000 Stellen bei der Swisscom im Jahr 1998 und der damit verbundenen Entlassungen. Ich erfuhr davon am Tag einer Delegiertenversammlung und erinnere mich noch heute daran, wie wenn es gestern gewesen wäre. Als ich die Delegierten darüber informierte, war ich tief bestürzt. Allgemein waren die schwierigen Momente immer eng mit den ­Schäden verbunden, die den Menschen durch Entlassungen und Restrukturierungen entstehen.

Sowohl bei dir als auch in deiner Familie ist die berufliche Laufbahn bei der PTT mit dem Engagement für die Gewerkschaft eng verflochten. Wie kommt das?

Meine Eltern waren Posthalter, heute sind sie pensioniert. Auch mein Bruder hat bei der Post gearbeitet. Die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft war in unserer Familie eine stark verankerte Tradition. Mein Vater war Präsident einer Sektion des Posthalterverbands (SPV), mein Bruder präsidierte eine Sektion des Verbands Schweizerischer Postbeamter (VSPB). Als sie erfuhren, dass ich bei der Fernmeldedirektion Sion angestellt wurde, vermittelten sie mir eine klare Botschaft. Und ich habe sie verstanden: Gleich nach Stellenantritt wurde ich Mitglied im Verband Schweizerischer Telegraphen- und Telephonbeamten (VSTTB).

Du hast während 17 Jahren für die PTT gearbeitet. Später hast du die Aufteilung in Swisscom und Post als Gewerkschafter miterlebt und begleitet. Wie bist du damit umgegangen? Was waren die entscheidenden Momente in diesem Prozess?

Damals war es schwierig, die Folgen dieser Entwicklung abzuschätzen. Ich erinnere mich an die heftigen Debatten in der PTT-Union über die Frage, ob Referenden gegen die Gesetze ergriffen werden sollten, die gleichzeitig diese Aufteilung und die Öffnung des Telekommunikations- und Postmarkts regelten. Es gab grosse Spannungen. Schliesslich entschied die Mehrheit, auf die Referenden zu verzichten – aus verschiedenen Gründen, hauptsächlich aber wegen der fehlenden politischen Unterstützung. Aber auch wegen der «Sozialklauseln», die in die verschiedenen Gesetze aufgenommen wurden. Auch im Rückblick ist es schwierig zu wissen, ob damals die richtigen Entscheidungen getroffen wurden. Glücklicherweise konnte die Einheit der Gewerkschaft trotz der grossen Differenzen in dieser Frage erhalten werden.

Als Folge dieser Aufteilung der PTT und der Marktliberalisierungen kam es rasch zu einer gewerkschaftlichen Neuordnung innerhalb der PTT. Unsere Statuten wurden an die neue Realität angepasst. Sie sollten den Übergang von der Unternehmens- zur Branchengewerkschaft möglich machen. Das war die Basis für die Gründung der Gewerkschaft Kommunikation.

Die Gewerkschaft – deine Gewerkschaft – hat sich in der Zeit, in der du für und bei der Gewerkschaft gearbeitet hast, stark gewandelt. Es war ein weiter Weg von der VSTTB über die PTT-Union und die Gewerkschaft Kommunikation schliesslich zu syndicom. Was hat sich geändert und was ist gleich geblieben?

In den ersten Jahren, in denen ich auf nationaler Ebene arbeitete, konnten wir jedes Jahr die Verbesserungen auflisten, die wir für unsere Mitglieder erreicht hatten. Bei jeder Versammlung wurden wir dazu herzlich beglückwünscht.

Seither hat sich die Situation aber stark verschärft. Seit Mitte der 90er-Jahre müssen wir (zu) häufig dafür kämpfen, das Erreichte zu verteidigen oder die Folgen der verschiedenen Restrukturierungen abzufedern. Ausserdem sind wir von Sozialpartnern eines Unternehmens – der PTT – zu Sozialpartnern von Dutzenden von Unternehmen geworden. Wir haben aber nicht immer genügend Ressourcen, um dieser Entwicklung vollständig gerecht werden zu können.

Dieser Wandel führte nicht nur zu einer Neuordnung, sondern zu einer radikalen Veränderung der Gewerkschaft. Von einer Gewerkschaft der «Forderungen» sind wir zu einer Gewerkschaft der «Kämpfe» geworden, von einer Unternehmens- zur Branchengewerkschaft. Gleich geblieben ist das immer noch grosse Engagement unserer MilizerInnen. Es gibt nicht viele Gewerkschaften, die auf so viele engagierte AktivistInnen zählen können.

Mit welchen Strategien und Ideen kann syndicom die Zukunft meistern? Was sind die grössten Herausforderungen?

syndicom ist gut gewappnet für die Zukunft. Die Prioritäten, die für die Zeit bis zum Kongress festgelegt wurden, sind sinnvoll. Sie sollten entschlossen umgesetzt werden. Es geht jetzt darum, die Präsenz der Gewerkschaft in den Unternehmen zu stärken, die Vertrauensleute noch mehr zu unterstützen und eine sehr aktive GAV-Politik weiterzuverfolgen. So können wir uns den Herausforderungen stellen – der Verschärfung der Arbeitsbedingungen, der zunehmenden Individualisierung und vor allem der fortschreitenden Digitalisierung und damit verbundenen Entmenschlichung.

Ich bin zuversichtlich in Bezug auf die Zukunft von syndicom und der Gewerkschaften allgemein. Allerdings müssen sich alle immer bewusst sein, dass nur Solidarität und gemeinsames Handeln den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern helfen, sich wirksam zu verteidigen und ihre Situation zu verbessern. Der Individualismus ist eine Sackgasse.

Zum Schluss ein Appell an unsere Mitglieder: Wenn jede und jeder von euch nur einen Kollegen von der Gewerkschaft und der Notwendigkeit der Solidarität überzeugen und zum Beitritt bewegen würde, wären die Zukunftsaussichten der Personen, für die wir uns einsetzen, um einiges besser.

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