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Gefährliche Übergangsphase

Hunderte von Frauengruppierungen, Basisorganisationen, Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisa­tionen und kulturellen Vereinigungen nahmen am Weltsozialforum in Tunesien teil, wo der Arabische Frühling vor zwei Jahren erwachte. 

Rund 50 000 TeilnehmerInnen aus 135 Ländern haben sich zum Weltsozialforum vom 26. bis 30. März eingefunden, die grosse Mehrheit von ihnen aus arabischen Ländern, über 80 Prozent aus Tunesien und dem Maghreb selber. Das Bild der TeilnehmerInnen wurde zudem von ­vielen Frauen und Jugendlichen beider Geschlechter stark geprägt. In über 1000 Workshops wurde heftig, lebendig, kontrovers diskutiert über Erwerbslosigkeit, Frauenrechte, Gewerkschaftsarbeit, Bildungspolitik, Finanzkrise, Entwicklungspoli­tik, Klimawandel, Wasserpriva­ti­sierung, über den Arabischen Frühling, Palästina, Europas mörderische Grenzregimes, zerstörerische Multis und vieles mehr. Für die Durchführung des Forums in Tunis zeichnen vor allem die örtlichen sozialen Bewegungen sowie die Gewerkschaftsorganisation UGTT (Union Générale Tunisienne du Travail) verantwortlich.

Es ist allgegenwärtig: Die tune­si­sche Gesellschaft befindet sich im Aufbruch und durchlebt gegenwärtig eine schwierige, ja gefährliche Phase des Übergangs. Bilder von Chokri Belaïd, Rechtsanwalt und Führungskraft der linkspolitischen Bewegung, der am 6. Februar 2013 ermordet wurde, sind auf Schritt und Tritt am Forum anzutreffen. Die Linke verlangt mit seiner Witwe, Basma Khalfaoui, schonungslose Aufklärung. Basma Khalfaoui rief anlässlich der Eröffnung des Forums wie bei einer eindrücklichen Begegnung mit der Schweizer Delegation (siehe Kasten) eindringlich dazu auf, sich der Gewalt mit Worten zu widersetzen («Résister à la vio­lence par la parole!»), die offene Auseinandersetzung zu wagen und voneinander zu lernen – «par la parole», nur «par la parole».

Basma Khalfaoui gehört zu den vielen mutigen und unerschrockenen tunesischen Frauen, die während der Revolution an vorderster Front eine grosse Rolle gespielt haben und in jeder Etappe präsent waren.

Frauen an vorderster Front

So ist es auch für die Association Tunisienne des Femmes Démocrates ein gutes Zeichen, dass das Forum mit der Frauenversammlung eröffnet wurde: Jetzt, in der Phase der Transformation, gelte es, dafür zu kämpfen, dass die Frauen Rechte und Teilhabe in Gesellschaft und Politik bekommen. «Wir wollen kämpfen bis zum Schluss. Wir werden keine Forderungen fallen lassen. Wir wollen Frieden, Freiheit und Rechte!» So die kämpferischen Worte der tunesischen Teilnehmerinnen und verschiedener Maghreb-Länder anlässlich des Workshops «Egalité d’abord». Denn es gibt Kräfte in Tunesien, die die Forderungen nach Frauenrechten bekämpfen.

Islamisierung

Sie sehen die Frauen lieber als «Ergänzung» zu den Männern. Darum rufen die Frauen, die ein fortschrittliches Tunesien wollen, wie Frauen aus verschiedenen anderen Ländern des Südens die Frauen im Norden auf, sie dabei aktiv zu unterstützen.

Am Forum wurde auch über die künftige tunesische Verfassung diskutiert. Vertreter der Ennahda (Mehrheitspartei in der Übergangsregierung) wollen vor allem Tunesien reislamisieren: mit der Sharia als Grundlage des neuen Staates, mit eingeschränkter Pressefreiheit und ohne wirklich unabhängige Justiz. Ein grosser Teil der tunesischen Bevölkerung lehnt eine solche Verfassung vehement ab. Der letzte Entwurf der neuen Verfassung enthält in vielen umstrittenen Fragen Formulierungen, die je nach Weltanschauung interpretierbar sind. Die fortschrittlichen Kräfte in Tunesien glauben, die verschiedenen Bevölkerungsschichten gegen die Absichten der Ennahda mobilisieren zu können. Hoffen wir, wie Peter Niggli von Alliance Sud in seinem Blog schreibt (alliancesud.ch), dass die TunesierInnen sich nicht fürs himmlische Paradies, sondern für ein bisschen Paradies im irdischen Leben entscheiden.

* Therese Wüthrich, pensionierte Zentralsekretärin von syndicom, reiste mit der Schweizer Delegation an das Weltsozial­forum.

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