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Gemeinsamkeiten aller Selbständigen – es gibt sie

Zu Besuch bei der „Bundeskommission Selbstständige“ ver.di

 

Lassen sich Interessen der Freischaffenden verschiedener Branchen in einer Gewerkschaft wie syndicom verbinden, lohnt es sich, dass sie sich organisieren? Dies ist eine Frage, die sich die Interessengruppe Freischaffendevon syndicom stellt. Die Antwort nach einem Delegationsbesuch bei der „Bundeskommission Selbstständige“ der deutschen Dienstleistungsgewerkschaft ver.di lautet: Ja.

„Wir sind jetzt hier konstituiert, wir haben das Bewusstsein, dass es gemeinsame Interessen gibt, die wir organisieren müssen. Den weiteren Mitgliedern und erst recht denen, die noch nicht organisiert sind, fehlt es freilich“, sagt Carsten Lampe. Er ist Diplomgeograf aus Köln und arbeitet als selbständiger Berater im Bereich Freizeit, Touristik. Klaus Behringer, Schriftsteller aus Saarbrücken: „Auch bei uns haben die Selbständigen wenig Zusammengehörigkeitsgefühl. Es geht darum, dass wir sie für ihren Status sensibilisieren.“

Dann läuft ein Film. An einer 1.-Mai-Veranstaltung moderiert eine Gewerkschaftsprofi die Statements von Freelancern aus fünf Branchen, Pflege, Gartenbau, Journalismus und so weiter. Die Themen: Die Nachbereitungsarbeiten werden nicht bezahlt. Die Honorare sind abgestürzt. Die Sozialversicherung ist nicht sicher. Meine Konkurrenz unterbietet sich mit den Preisen. Ich liebe meinen Beruf, aber ich werde schon bald nicht mehr davon leben können. Alles erstaunlich kongruent mit dem, was Freischaffende in der Schweiz erzählen, was die Interessengruppe (IG) Freischaffende der Gewerkschaft syndicom diskutiert.

syndicom-Freischaffende organisiert euch
Doch von vorn. Durch die Fusion vor eineinhalb Jahren ist eine Gewerkschaft mit rund doppelt so vielen Branchen entstanden, wie sie die beiden Einzelteile davor hatten. Bereits organisiert waren die Freischaffenden in der Kommission Freie (FreKo) der Mediengewerkschaft comedia gewesen. Sie machen vermutlich immer noch überwiegenden Teil der Freischaffenden auch in der neuen Gewerkschaft aus. Ebenfalls schon organisiert waren Freelancerinnen und Freelancer im visuellen Bereich – auch sie damals bei comedia.

In der Gewerkschaft syndicom gibt es Freischaffende in den Branchen Journalismus, Visuelle Kommunikation, IT, sowie freischaffende Chauffeure, Fluglotsen/SIM-Piloten. Bald wird es sie mehr und mehr auch bei der Post geben. Sie sind neu in der IG Freischaffende verbunden.

„syndicom soll zukunftsorientiert und branchenübergreifend Ressourcen für Freischaffende und Selbständigerwerbende zur Verfügung stellen und als Aufbaubereich definieren.“ So lautet die gewerkschaftliche Vorgabe. Die Recherchefrage hiess: Was sind die Gemeinsamkeiten der Selbständigerwerbenden verschiedener Branchen? Können sie sich überhaupt organisieren? Und wie? Damit machte sich eine syndicom-Delegation am 7./8. Juni auf nach Berlin, um die BKS, die „Bundeskommission Selbstständige“, der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft – ver.di – zu treffen.

Der Backsteinbau an der Spree
Sie findet man in einem 2004 erbauten, zweiflügeligen, imposanten Glas-Backstein-Bau wie der eines mittleren Versicherungsunternehmens, direkt an der Spree, 200 Meter vom Ostbahnhof, einen guten Kilometer vom Alexanderplatz. Und da sitzt sie dann, die Runde, zusammengesetzt aus 20 ausgefuchsten Freischaffenden aus dreizehn Branchen, die sich drei Mal im Jahr treffen, im siebten Stock, im „Picasso-Saal“ – und sie kommen teils fast so weit her wie wir – Freiburg, Stuttgart, Flensburg, Leipzig, Rostock, Offenbach...

ver.di ist ungefähr syndicom plus VPOD. Im Vergleich zur schweizerischen Mediengewerkschaft hinzu kommen die Branchen Bildung, Wissenschaft Forschung, Gesundheit, soziale Dienste, Wohlfahrt, Kirchen, Handel, Kunst, generell öffentliche Dienste. 30000 Freischaffende sind in der Gewerkschaft organisiert. 2,1 Millionen Mitglieder vertritt sie insgesamt.

Und in der Runde zeigt sich gleich: Die unterschiedlichen Erfahrungen sind keine Schwierigkeit. Die Organisation der verschiedenen Branchen schliesst nichts aus. Im Gegenteil, die Inklusivität ist eine Chance. Sie führt „nur“ zu Diskussionen auf ausserordentlich hohem, differenziertem Niveau. Dabei halten sich Debatten sowohl der Funktionäre – der politischen und Kampagnenleiter – als auch der Mitglieder und die konkreten Projekte in den Arbeitsgruppen die Waage.

Virale Spots, mit der TO-Box Freie noch mehr auspressen

 

Und das wird getan

  • Dotiert mit einer 70-Prozent-Stelle ist www.mediafon.net. Hier beraten Freischaffende ihre Berufskolleginnen und -kollegen. Mediafon gibt auch einen Ratgeber für Selbständige aller Branchen heraus.
  • Über die Plattform läuft eine ständige, derzeit für alle Branchen erweiterte Honorarumfrage für Freischaffende. Ausser in Branchen mit Tarifverträgen sind in der Europäischen Union Honorarempfehlungen nicht erlaubt. Die Plattform jedoch ist eine „Dokumentation des realen Elends der Honorare: Nur wenn wir die Daten offenlegen, können wir öffentlich darüber diskutieren“, heisst es in der BKS. In nicht seltenen Fällen sind die Einträge auf der Plattform eine Empfehlung, wo man besser nicht arbeitet. Es ist offenkundig, dass genau branchenübergreifende Werkzeuge wie die Honorarumfrage das Bewusstsein für die fachbereichsübergreifende gemeinsame Befindlichkeit schärfen!
  • Die AG Öffentlichkeitsarbeit wartet mit einem viralen Spot auf, der – unaufdringlich – auf www.verdi.de leitet und klar macht, dass Solidarität nur über Organisation erzielt werden kann. Zynisch der bereits abgedrehte Film www.to-box.info. Er zeigt Arbeitgebern, wie sie Freischaffende noch mehr auspressen können, und soll ebenfalls auf verdi-de leiten.
  • Die AG Wandel der Arbeitswelt dreht am selben Thema. Hier soll ein Spiel mit Ereigniskarten („Ich bin freischaffend und trotz Arbeit arm“, ebenso wie „Ich bin freischaffend und verdiene gut“) zu ver.di leiten. Erhältlich soll es sein als App oder gedruckt. Der spielerische Ansatz wird gepflegt.
  • Man arbeitet mit Social Media. Verschiedene Regionalgruppen unterhalten Verdi-Seiten. Die Facebook-Seite des Bundesverbands zählt 8640 Fans. Die sind vernetzt mit 1,7 Millionen Nutzern. O-Ton aus der Kommission: „So und so viele Kollegen toben sich täglich stundenlang in sozialen Netzwerken aus. Wenn wir die nicht bedienen, haben wir sie verloren.“
  • Die AG Sozialversicherungssystem für die „Solofreien“ – Selbständige ohne Angestellte, wie sie bei ver.di genannt werden – ist verlinkt mit dem Bundestag und arbeitet an der Gesetzgebung.
  • Es gibt eine Palette Seminarangebote (Resilienz, Netzwerkkompetenz, Verkaufsrhetorik, Motivationsarbeit, Präsenztechnik...) und ein jährliches Aktiventreffen. Dessen Programm: vorab Raum für Austausch und Vernetzung.

Ist sichere, reguläre Arbeit noch sicher?
Schwerpunkt ist freilich die Auseinandersetzung mit der zunehmenden Deregulierung der Arbeitsverträge – der Deregulierung der Arbeit als Grosstrend. Der freie Verkehr von Kapital, Waren, Arbeitnehmenden und Dienstleistungen – jeder und jede darf überall in der Union Dienstleistungen anbieten und nicht diskriminiert werden, ausser die (privilegierten) Kammerberufe, die sich rechtzeitig schützten... –, er sorgt dafür, dass im Pflegebereich Wanderarbeiterinnen in einem grauen Markt arbeiten; dass der Werkvertrag missbraucht wird; dass beim multinationalen Inneneinrichter tagsüber das Personal regulär (oder semiregulär) arbeitet und nachts – mangels gesetzlichen Mindestlohns – Bulgaren für zwei bis drei Euro Regale auffüllen; dass nach Produkt bezahlt wird, nicht nach Arbeitskraft oder Stunden (die „gute alte“ Akkordarbeit ist wieder da, etwa im Reinigungsdienst); dass gar Erwerbsarbeit ohne Honorar schon gang und gäbe ist (grafisches Gewerbe: Vorschläge für eine neue CI, Honorar kriegt der Gewinner; Gastronomie: Servicearbeit nur gegen Trinkgeld).

„Die Dienstleistungsfreiheit“, so Wolfgang Uellenberg, der bei ver.di den Bereich „Politik und Planung“ leitet, „ist das Einfallstor für alle möglichen Deregulierungen.“ In der Automobilindustrie werden drei Prozent, bei den Zulieferern jedoch 70 Prozent der Aufträge in Leiharbeit verrichtet. „Jeder zweite Anstellungsvertrag bei jüngeren und älteren Arbeitnehmenden in Deutschland“, sagt Uellenberg, „ist ein befristeter Vertrag.“ Und „40 Prozent der Arbeitnehmenden in unserem Land sind heute atypisch beschäftigt und entsprechend sozialversicherungsrechtlich nicht mehr ausreichend abgesichert.“

Fazit: Eine Gewerkschaft ist heute für 40 Prozent der Arbeitnehmenden nicht mehr da, wenn sie nur noch für die 60 Prozent Regulärarbeitenden sorgt. „Wir brauchen eine neue Definition des Prekariatsbegriffs“, fordert Gundula Lauch. Sie hat den BKS-Vorsitz inne. „Viele Selbständige, die heute gut verdienen, finden nicht, sie sind prekär. Sie sind es aber, weil es keine Sicherheit gibt, ob das in einem halben oder in einem Jahr noch so ist. Wir müssen auch sie sensibilisieren.“ Die Diskussion, ob freiwillig oder unfreiwillig selbständig – wie die FreKo sie hin und wieder führt, sie fällt dahin...

„Vor zehn Jahren“, formuliert Hans-Peter Brenner – er ist Psychotherapeut und repräsentiert den Fachbereich Gesundheit, soziale Dienste – seine Perspektive brillant, „habe ich Phobien behandelt. Heute ist die Mehrheit meiner Klienten Opfer dieses Prozesses der Arbeitslosigkeit oder der Bedrohung der Arbeitslosigkeit. Ich habe haufenweise ganz normale Leute, keine Akademiker, die durch den Druck der Arbeit oder des Entlassenwerdens innerlich zerbrechen.“

Einiges wird man im Detail wiedersehen

Es zählt ebenfalls zu den Vorgaben, dass die IG Freischaffende 2013 einen (den ersten syndicom-)Selbständigenkonkress organisieren soll. Es scheint sicher: Einiges der Inputs von BKS und ver.di aus Berlin, man wird es dann im Detail wiedersehen.

verdi.de; freie.verdi.de

Michael Walther, freischaffender Journalist, Autor
(ist Mitglied der Kommission Freie der IG Freischaffende von syndicom. Er besuchte mit Lukas Hartmann (Mitglied Zentralvorstand, Vorstand Visuelle Kommunikation, Redaktor „Typografische Monatsblätter“, freischaffender Gestalter, Dozent; und Bernadette Häfliger Berger (Leiterin Gleichstellung und Recht und in dieser Funktion auch für die IG Freischaffende zuständig) am 7. und 8. Juni 2012 die „Bundeskommission Selbstständige“ der Mediengewerkschaft ver.di.

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