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Gesundheitsschutz: Von Betroffenen zu Beteiligten

«Betroffene werden zu Beteiligten durch ganzheitlichere Produktion, mehr Autonomie, soziale Unterstützung und das Gefühl von Selbstwirksamkeit», sagt der Berner Arbeitspsychologe Prof. Norbert Semmer. Er ist am 9. Dezember einer der Sprecher an der halbtägigen SGB-Veranstaltung zu «Mitwirkung in der Arbeitssicherheit und im Gesundheitsschutz» *.

© Max Spring

Etwa ein Drittel der Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beklagen sich über zuviel Stress. Die Zahlen zeigen: Die Schweiz ist nahezu Europameister bezüglich Wochenarbeitszeit und Stress. Die wichtigsten Belastungsfaktoren waren vor einigen Jahren gemäss Schweizerischem Gesundheitsobservatorium

  • Multitasking (68% Nennungen)
  • laufende Neuerungen (67%)
  • Dauernde Konzentration (57%)
  • Computerarbeit (54%)
  • viele Termine (54%) und
  • eine ermüdende Körperhaltung (45%)

Herr Professor Semmer: Gibt es Tendenzen bei den oben genannten Belastungsfaktoren?
Über eine Reihe von Jahren hinweg ergibt sich eine leichte Zunahme bei Stressfaktoren, die mit Zeitdruck und ständiger Konzentration zu tun haben. Der Stress ist aber die eine Seite, die Ressourcen der Arbeitnehmenden die anderen. Diese können gestärkt werden, beispielsweise durch ganzheitlichere Produktion, mehr Autonomie oder soziale Unterstützung. Das reduziert den Stress.

Als stressmindernde Massnahme plädieren Sie dafür, Betroffene zu Beteiligten zu machen. Was sind die wichtigsten Hebel dazu?
Dies kann mit mehr Partizipation geschehen, verstärkter Eigenkontrolle über die eigene Arbeit, Vorschriften, die nicht unnötig einschränken und so weiter. Ebenso wichtig ist die Überzeugung der Arbeitnehmenden, dass man etwas verändern kann. Das Gefühl von Selbstwirksamkeit - „ich kann die Dinge beeinflussen“ - hilft, Stress zu vermeiden und mit Stress umzugehen.

Unternehmen und deren Management haben aber oft Angst vor Beteiligung.
Wenn mehr Menschen an einem Entscheid beteiligt sind heisst das oft, dass jemand Entscheidkompetenz abgeben muss. Das bedeutet Kontrollverlust und das kann unangenehm sein. Zudem dauert der Entscheid in der Regel länger. Man muss deshalb darüber nachdenken, wie man damit im Verlaufe eines Entscheidprozesses umgeht, etwa mit zeitgerechter Information und einem gut organisierten Teamprozess. Viele Entscheide scheitern bei vielen Beteiligten oft am schlecht organisierten Prozess.

Daraus könnte man folgern: Besser keine Beteiligung.
Nein, das sicher nicht. Aber man muss es in Rechnung stellen. Die Beteiligung selber ist ein Projekt und zwar oft ein mühsames!

Mühsam? Aber da macht doch niemand mit!
Es lohnt sich nicht, den Leuten zu versprechen, Beteiligung sei ganz einfach. Da muss man sich auf einen Marathon einstellen, nicht auf einen Sprint

Im Paketzentrum Härkingen haben ich und andere Mitglieder der Gesundheitskommission beobachtet, dass arbeitserleichternde Geräte nicht oder nur wenig benutzt werden, beispielsweise eine Vorrichtung zur maschinellen Hebung schwerer Pakete.
Menschen sind Gewohnheitstiere, und was wir gewöhnt sind, machen wir ohne grossen Aufwand, sozusagen automatisch. Eine Umstellung ist erst einmal aufwendig, und dieser Aufwand ist uns oft zu viel, wenn wir unter Druck stehen. Die Einführung ergonomisch verbesserter Geräte ist ein eigenes Projekt. Es reicht nicht, diese einfach hinzustellen. Man muss so lange schulen, bis neue Bewegungsabläufe schon fast automatisiert sind.

Oder man schreibt Schutzvorrichtungen einfach vor, beispielsweise über die SUVA, die etwa Helme auf Baustellen als obligatorisch erklärte.
Gesetze und Vorschriften sehe ich nur als letzte Möglichkeit. Motivieren und Üben bringen mehr.

Nochmals Härkingen: Hier gibt es immer noch Arbeitsplätze mit sehr einfachen Arbeiten, die der Betreffende den ganzen Tag an einem einzigen Platz leisten muss. Dabei gab es Job-Rotation bereits vor vierzig Jahren, als ich in der Schanzenpost Bern arbeitete.

Einfachste Arbeiten über sehr lange Zeit: Das scheint unausrottbar zu sein. Diese Organisation taucht immer wieder auf, wohl in der Annahme, es sei effizient. Dabei ist in den Arbeitswissenschaften schon lange erkannt worden, dass die Ganzheitlichkeit der Arbeit zufrieden macht, nicht klassische Fliessbandarbeit. Aber auch hier gilt: Es funktioniert nur, wenn man die Menschen bei einer Umstellung eingbezieht.

Investitionen in Arbeitssicherheit kosten das Unternehmen Geld.

Arbeitsunsicherheit kostet letztlich noch mehr. Aber man darf das Kalkül nicht nur kurzfristig und nicht nur für sich machen: Die Kosten sind sofort sichtbar, der Nutzen ist oft weit weg.

Oft werden auch bekannte Unfallursachen nicht behoben. Bei den Versicherungsprämien zahlen alle mit - und sie steigen erst mit der Zeit an.  
Man weiss, dass die Leute Unfallgefahren oft schlecht einschätzen. Wenn ich hundertmal auf einen Stuhl statt auf einer sicheren Leiter gestanden bin und es ist nichts passiert, heisst das nicht, dass beim 101sten Mal nichts passieren wird. Wir meinen dann aber, wir hätten das im Griff.

Ist das Grundproblem eines wirksamen Gesundheitsschutzes nicht einfach die kapitalistische Produktionsweise, die auf mehr Effizienz aus ist, die Arbeit verdichtet und damit tendenziell das Letzte aus den Leuten herausholt?
Die Politik, respektive Arbeitsgesetze müssen dem einen vernünftigen Rahmen setzen. Man muss sich schon fragen, ob jede kostensparende Massnahme auch langfristig sinnvoll ist. Schauen Sie VW an: Die kurzfristigen Einsparungen, die VW mit ihrem umweltschädigenden Abgassystem erzielte, zahlen sich nun überhaupt nicht aus. Das wird eine sehr teure Angelegenheit für VW werden.

Die Ursachen von körperlichen Unfällen sind meist klar. Bei den zunehmenden psychischen Ausfällen, etwa in Form von Burnout, jedoch deutlich weniger. Entgrenzung der Arbeit ist eine mögliche Erklärung: Arbeit zu Hause und in der Freizeit dehnt sich dank all der tollen IT-Geräte aus. Könnte eine einfache Massnahme nicht sein, dass das Unternehmen am Freitagabend den Zugang zu seinem Internet-Provider einfach abstellt?
Das ist ein Notbehelf. Es ist wichtiger, diese Themen immer wieder anzusprechen und beispielsweise die Schwelle für den Gebrauch von E-Mail, SMS usw. nach Feierabend heraufzusetzen: nur wenn nötig, dringend und sinnvoll. Im jährlichen Mitarbeitergespräch kann beispielsweise geklärt werden, wann und wie oft in der Freizeit gearbeitet worden ist, ob sich das im Rahmen hält und ob man es auch kompensieren kann (z.B. mal früher nach Hause gehen). Daraus folgend können Ziele für das neue Jahr gesteckt werden.

Kurz zusammengefasst: Wie kann der zunehmende Stress beschränkt werden?
Die Belastung des Arbeitnehmers darf nicht endlos sein. Ineffiziente Arbeitsabläufe und Werkzeuge müssen verbessert werden. Bei hoher Belastung sollte man Unterstützung bieten: Sei es zur Bewältigung der Arbeitsmenge und auch zur Bewältigung des Stress an sich. Sehr wichtig sind zudem Anerkennung und Wertschätzung: Arbeitende möchten in dem, was sie leisten, gesehen und anerkannt werden.
                               
Herr Professor Semmer: Besten Dank für dieses aufschlussreiche Gespräch!
Interview: Alfred Arm

Alfred Arm, Mitglied der syndicom-Gesundheitskommission, Journalist BR und Coach für Laufbahngestaltung (www.roter-faden-finden.ch)



*«Mitwirkung in Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz»
Datum/Ort: Mittwoch 9. Dezember 2015,
13.30 bis 17.30 Uhr, Hotel Ador, Laupenstr. 15, Bern.
Sprecher: Prof. Norbert Semmer (Uni Bern),
Luca Cirigliano (SGB)
Dr. Josef Weiss (Seco)
Giorgio Pardini (syndicom)
Dario Mordasini (Unia)
Samuel Woodli

Informationen und Anmeldung: juliet.harding@sgb.ch

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