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GIV-GAV und Temporärarbeit: die Lage bleibt skandalös

Seit dem 1. Januar 2012 ist der «Gesamtarbeitsvertrag Personalverleih» (GAV Temporärarbeit) in Kraft. Dies bedeutet einen markanten Fortschritt für die bei Personalvermittlungen Beschäftigten, deren Arbeitsbedingungen oft unklar und prekär waren. Der GAV ist auch von Bedeutung für die Swisscom und die Post, die bekanntlich zu den grössten Kunden von Adecco in der Schweiz zählen. In der grafischen Industrie bleibt die Lage problematisch, ja skandalös.

 

Dies sind die zentralen Eckwerte im GAV Temporärarbeit: die 42-Stunden-Woche, der 13. Monatslohn, die Abgeltung von Feiertagen, eine 5. Ferienwoche ab 50 Jahren, eine Krankentaggeldversicherung, eine BVG-Garantie von der 14. Vermittlungswoche an, Möglichkeiten zur Weiterbildung, Mindeststundenlöhne von Fr. 16.46 bis Fr. 23.59 (je nach Ausbildung und Region).

 

Diese Bedingungen gelten grundsätzlich für alle, da der GAV allgemeinverbindlich erklärt wurde. Dies entspricht einer gemeinsamen Forderung bzw. Bedingung, welche die Sozialpartner von Beginn ihrer Verhandlungen an gestellt hatten, um dem Dumping bei den Arbeitsbedingungen durch «wilde» Unternehmen vorzubeugen. Der GAV Personalverleih kann vollständig heruntergeladen werden.

 

Verhältnis zu den anderen GAV

Was geschieht nun aber, wenn eine Temporärarbeitsfirma eine Beschäftigte in ein Unternehmen entsendet, das einem anderen GAV unterstellt ist? Welcher GAV gilt dann? In der Praxis gibt es hier vier Möglichkeiten mit jeweils unterschiedlichen Folgen.

Erste Variante: Das Unternehmen, in dem der Auftrag zu erledigen ist, untersteht einem allgemeinverbindlich erklärten GAV. In diesem Fall ist in jedem einzelnen Punkt jener GAV anwendbar (Personalverleih oder Unternehmen), der für die Arbeitnehmerin besser ist. Diese Variante existiert in keiner Branche von syndicom, da keiner unserer GAV allgemeinverbindlich erklärt wurde.

 

Zweite Variante: Der GAV des Unternehmens, in dem die Arbeit erledigt wird, ist in Anhang 1 des GAV Temporärarbeit aufgeführt (siehe blauer Kasten). In diesem Fall verhält es sich praktisch wie bei der ersten Variante. Hier sind wir betroffen mit den GAV Post, PostLogistics AG und Aushilfen bei der Post. Nicht im Anhang 1 aufgeführt dagegen ist der GAV für die ausgelagerten Einheiten der Post und leider auch keiner der anderen GAV, wo syndicom Vertragspartnerin ist.

 

Eine dritte Variante bestünde darin, dass der Unternehmens-GAV ausdrücklich vorsieht, dass die Bedingungen auch für das entsendete Personal von Temporärarbeitsfirmen gelten. Dies wäre eigentlich der Fall beim Gesamtarbeitsvertrag in der grafischen Industrie (im Folgenden GAV GI). Allerdings werden die Bestimmungen nicht eingehalten, und zwar mit der ausdrücklichen Unterstützung des Unternehmerverbandes Viscom. Wir kommen gleich darauf zurück.

 

Vierte Variante: Im für das Unternehmen geltenden GAV ist nichts vorgesehen. Hier kommt der GAV Temporärarbeit voll zur Anwendung. Dies trifft bei uns zum Beispiel bei den GAV Swisscom, Télé Genève und DPD zu.

 

Desolate Lage in der grafischen Industrie

Der GAV GI hält ausdrücklich fest, dass für Beschäftigte «von Temporärfirmen die Bestimmungen des GAV sinngemäss anzuwenden» sind. Das ist den Firmen aber völlig egal. Der Unternehmerverband Viscom kritisiert am Begriff «sinngemäss» herum und weigert sich, seine Mitglieder zur Einhaltung dieses Punktes aufzurufen. Da in der Branche keine paritätische Kommission besteht, konnten wir in dieser Sache noch nie richtig aktiv werden. Das ist aber noch nicht alles: Als die erste Version des GAV Temporärarbeit bezüglich der Allgemeinverbindlicherklärung in die Vernehmlassung gegeben wurde, figurierte im Anhang 1 noch der GAV GI, gleich wie die GAV der Post. Viscom setzte sich dagegen heftig zur Wehr und gab ihren Widerstand beim Seco erst auf, als der GAV aus dem Anhang gestrichen wurde.

 

Und es geht noch weiter: Viscom setzte zusammen mit den Arbeitgebern der Maschinen-, Uhren-, der chemischen und der Pharmaindustrie sowie der Lebensmittel- und der Luxusgüterindustrie und auch den öffentlichen Verkehrsbetrieben eine Ausnahmeregelung für die Mindestlöhne im GAV Temporärarbeitende durch, mit der nur noch eine schwammige «Empfehlung zur Einhaltung regional und branchenüblicher Löhne» festgehalten wird. Viscom hält also nicht nur den GAV nicht ein, den sie selber unterzeichnet hat, vielmehr fordert sie ihre Mitglieder geradezu auf, nicht einmal die Mindestlöhne im GAV Temporärarbeit zu bezahlen! Im Übrigen spricht das im hellgrünen Kasten wiedergegebene, reale Fallbeispiel zu diesem Thema für sich.


Bevorstehende GAV-Erneuerungen

Die Verhandlungen über die Erneuerung des GAV GI beginnen im September. Falls es dabei nicht gelingt, die Hauptforderung mit der Allgemeinverbindlicherklärung durchzusetzen, so muss die Frage der Temporärarbeitenden unbedingt geregelt werden, sei es durch eine Präzisierung des Textes im GAV IG oder besser durch die Aufnahme des GAV GI in den Anhang 1 des GAV Temporärarbeitende, oder am besten durch beides.

Unsere Gewerkschaft muss aber auch bei allen weiteren kommenden GAV-Erneuerungen dafür sorgen, dass diese Frage klar geregelt wird. Am besten ist es, wenn alle GAV in den Anhang 1 des GAV Temporärarbeitende übernommen werden.

 

Das ist unerlässlich, wenn wir das Dumping bei den Arbeitsbedingungen verhindern wollen und die Einstellung von Festangestellten anstelle von Temporärarbeitenden fördern wollen.

 

Bernard Remion, Regionalsekretär

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