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Kranke nicht abschieben

Viele Unternehmungen kennen heute ein betriebliches Gesundheitsmanagement. Gern stellen solche Programme allerdings die Verantwortung der einzelnen Person für die Erhaltung ihrer Gesundheit ins Zentrum. Mit dieser Ansicht wird nicht nur völlig ausser Acht gelassen, dass Menschen trotz aller Prävention und vollkommen verantwortungsvollem Umgang mit den persönlichen Ressourcen krank werden können. Gleichzeitig werden die realen Verhältnisse in der Arbeitswelt ignoriert. 

Der gestiegene Produktivitätsdruck, aber auch der Umstand, dass Arbeitnehmende heute vielfach dauernd erreichbar sein müssen, tragen massgeblich dazu bei, dass Menschen im Arbeitsleben krank werden. Auch ist klar festzustellen, dass die Unternehmungen heute viel weniger bereit sind, Personen mit (noch so kleinen) Leistungseinschränkungen längerfristig zu beschäftigen. Es zeigt sich, dass sämtliche Beteiligte – seien es die betrieblichen Gesundheitsmanager oder die Mitarbeitenden der beruflichen Wiedereingliederung bei der Invalidenversicherung – überfordert sind und oft zu wenig Fachwissen besitzen.

Der Mensch als Problem

Aus dieser Überforderung lässt es sich teilweise erklären, wenn die einzelnen gesundheitlich eingeschränkten Personen mit ihren Problemen in die Ecke der Hypochondrie und der fehlenden Selbstüberwindung gestellt werden. Eigentlich hätte das Gesundheitsmanagement eine äusserst wichtige Funktion zu erfüllen: die gesundheitlichen Probleme eines oder einer Mitarbeitenden frühzeitig zu erkennen, mit dem Ziel, die Person im Arbeitsprozess zu behalten. Dies wird auch von den Gewerkschaften sehr unterstützt. Im betrieblichen Case-Management stehen sich jedoch gänzlich unterschiedliche Interessen gegenüber: Der oder die gesundheitlich eingeschränkte Mitarbeitende wünscht sich die Reintegration ins Arbeitsleben und versteht oft nicht, dass eine zum Teil jahrzehntelange Firmentreue so wenig zählt.

Auf der anderen Seite die Unternehmung, welche keine «Reibungsverluste» durch gesundheitlich eingeschränkte Menschen hinnehmen will. Der Arbeitgeber hat zudem die Möglichkeit, dem oder der kranken Mitarbeitenden zu kündigen, und stellt andererseits auch das Geld für das Case-Management zur Verfügung.

Der Mensch wird in diesem Prozess in erster Linie als Problem und nicht als gleichberechtigter Partner angesehen. Betriebliches Case-Management will hauptsächlich die Kosten­eindämmung und nicht die Integration der Einzelnen. Der volkswirtschaftliche Blickwinkel wird dabei ausser Acht gelassen.

Das Verfahren des Gesundheitsmanagements wird denn auch in der Regel nur eingeführt, wenn erwartet werden kann, dass das Unternehmen damit Kosten sparen kann. Die Situation des einzelnen Menschen rückt in den Hintergrund. Da die betriebswirtschaftlichen Ziele beim Case-Management klar priorisiert werden, stellen Unternehmungen ihre Bemühungen um ältere Mitarbeitende, Menschen mit geringer Bildung oder sprachlichen Einschränkungen (beispielsweise bedingt durch ihren Migrationshintergrund) relativ rasch ein. Es wird versucht, sie an die Invaliden- oder Unfallversicherung zu übergeben. Dies dürfte mit ein Grund dafür sein, dass die betroffenen Mitarbeitenden eher kritisch auf die Massnahmen reagieren.

Begründetes Misstrauen

Viele Frühinterventionsmassnahmen sind eher darauf gerichtet, Mitarbeitende zu kontrollieren, als die Arbeitsplatzsituation effektiv zu verbessern. Ein Vertrauensverhältnis kann so nicht entstehen, nicht zuletzt weil der Datenschutz zu wenig ernst genommen wird.

Obwohl es sich bei den Unterlagen des betrieblichen Case-Managements um besonders schützenswerte Personendaten handelt, glaubt die Arbeitgeberseite sich oft im Recht, wenn sie diese frei verwendet. Die mangelnde Sensibilität in diesem Bereich führt denn auch dazu, dass das Vertrauen ins Case-Management bei den Mitarbeitenden sehr gering ist.

Ein so verstandenes Gesundheitsmanagement ist volkswirtschaftlich unsinnig, werden dadurch Menschen doch vor allem invalidisiert statt integriert. Aus gewerkschaftlicher Sicht sollte die Person im Mittelpunkt stehen, die trotz gesundheitlichen Einschränkungen im Arbeitsprozess bleiben will. Und das wollen die allermeisten Menschen.

Ein wirkliches Interesse an Reintegration besteht seitens der Unternehmen nur bei gut ausgebildeten Fachkräften und Kaderpersonen. Hier wird investiert, und meist werden alle zur Verfügung gestellten Mittel für diese Gruppen verwendet. Die Erfolge in diesem Bereich zeigen dann aber, dass ein Gesundheitsmanagement, das die individuelle Reintegration in den Mittelpunkt stellt, durchaus erfolgreich ist.

Die volkswirtschaftlichen Kosten tragen alle

Das Recht des Einzelnen, trotz einer gesundheitlichen Einschränkung einer sinnstiftenden und seinen Fähigkeiten entsprechenden Arbeit nachzugehen, muss genauso berücksichtigt werden wie das betriebswirtschaftliche Interesse der Unternehmung, möglichst wenige Fehlzeiten aufzuweisen. Wenn die Angestellten eines Betriebs sich darauf verlassen können, dass im Erkrankungsfall das Gesundheitsmanagement primär das Ziel ihrer Reintegration verfolgt, sind sie auch offen, sich bei auftretenden Problemen frühzeitig an den Arbeitgeber zu wenden und neue Wege zu beschreiten.

Wenn sie dagegen befürchten müssen, den Arbeitsplatz zu verlieren, sobald sie die kleinste gesundheitliche Einschränkung haben oder auch nur wenn sie nicht mehr überdurchschnittlich leistungsfähig sind, werden sie versuchen, ihre Situation so lange zu verheimlichen, bis es wirklich nicht mehr geht.

Für eine Umschulung oder die Suche nach befriedigenden neuen Lösungen ist es zu diesem Zeitpunkt meist zu spät. Arbeitgeber müssen auch dazu verpflichtet werden, Arbeitsplätze für Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen zu schaffen. Dazu brauchen wir klare gesetzliche Vorschriften.

Der ungekürzte Artikel erschien in «Case Management» 4/2012.

* Bernadette Häfliger Berger ist lic. iur., Rechtsanwältin und Leiterin Gleichstellung und Recht.

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