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Krüppeln, dass die Rente reicht

Die Statistik zeigt: Frauen im Alter zwischen 50 und 55 Jahren verrichten oft die beschwerlichsten und am schlechtesten bezahlten Arbeiten. Doch gerade sie sind trotz Erschöpfung, Haushaltspflichten und allfälligen gesundheitlichen Problemen häufig gezwungen, ihr Arbeitspensum zu halten oder sogar mehr zu arbeiten, damit später die Rente reicht. Der öffentlichen Hand, Unternehmen und Gewerkschaften fällt es immer noch schwer, auf diesen Umstand einzugehen. 

 

Es besteht ein Trend zur Verlängerung des Berufslebens. Die politischen Behörden treiben die Erhöhung des Rentenalters vor­an, gleichzeitig mehren sich die Debatten um «aktives Altern». Die Schweiz gilt oft als Vorbild, denn sie übertrifft bereits die EU-Ziele bezüglich Erwerbstätigkeit älterer Menschen. Mit einer Beschäftigungsrate von 68 Prozent bei den 55- bis 64-Jährigen im Jahr 2010 – gegenüber 45,7 Prozent im Durchschnitt der 17 EU-Länder – belegt sie einen Podestplatz unter den Staaten, in denen die Mehrzahl der Erwerbstätigen bis zum gesetzlichen Rentenalter oder sogar darüber hinaus arbeitet.

«Aktives Altern» von nahem betrachtet

Die Beschäftigungsrate der älteren Menschen nimmt insgesamt zwar stetig zu, aber die Kurve der Männer und jene der Frauen verlaufen gegensätzlich. Die Erwerbsbeteiligung der 50- bis 65-jährigen Männer nimmt seit 1991 ab, während jene der Frauen derselben Altersgruppe ansteigt. Bei den Männern bleibt die Beschäftigungsrate bis 60 hoch und geht dann in den fünf Jahren vor dem gesetzlichen Rentenalter zurück; hier zeigt sich der vorzeitige Ruhestand.

Bei den Frauen stieg die Beschäftigungsrate der 55- bis 59-Jährigen markant: zwischen 1991 und 2010 von 55 auf 72 Prozent.

Gleichzeitig ist das Alter geradezu ein Ausschlusskriterium auf dem Arbeitsmarkt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Über die Hälfte der älteren Arbeitslosen (53% im Jahr 2010) sind Langzeitarbeitslose und haben ernsthafte Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Ausserdem beruht das Schweizer Rentensystem auf einem männlichen Karrieremodell: Es geht von einer durchgehenden beruflichen Laufbahn und einem Vollzeitpensum während des gesamten Erwachsenenlebens aus. Die beruflichen Laufbahnen der allermeisten in der Schweiz lebenden Arbeitnehmerinnen weichen von diesem Norm-Modell ab. So kommt es dazu, dass Frauen im Ruhestand viel tiefere Renten (bis zu dreimal weniger) als Männer beziehen.

Unser Rentensystem bevorzugt Norm-Männer

Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind beim Zugang zur beruflichen und individuellen Vorsorge, also zur 2. und 3. Säule, besonders krass (siehe Grafik). Die indirekte Diskriminierung durch das Rentensystem zwingt somit mehr Frauen als Männer zur Weiterführung ihrer Berufstätigkeit. Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ist trotz Haushaltspflichten und allfälligen gesundheitlichen Problemen eine Notwendigkeit, damit im Ruhestand die Rente den Lebensunterhalt decken kann. Es sei jedoch daran erinnert, dass Frauen einerseits und Männer anderseits keine homogenen Gruppen sind. Auch manche Männer sind gezwungen, bis zum gesetzlichen Rentenalter zu arbeiten, vor allem wenn sie Zeiten der Arbeitslosigkeit oder prekäre Anstellungen erlebt haben.

Die Unternehmen fördern die jungen Frauen

Die Begeisterung der öffentlichen Hand für das «aktive Altern» wird von den HR-Verantwortlichen in den Unternehmen kaum geteilt. Es gibt nur wenige Massnahmen für einen besseren Umgang mit dem Alter, und wo es sie gibt, beschränken sie sich in der Regel auf die Gestaltung des Karriereendes von Führungskräften, technischem Personal oder Fachangestellten – wo Frauen in der Minderheit sind.

Ältere Frauen befinden sich gewissermassen im toten Winkel der Unternehmenspolitik, namentlich weil Gleichstellungsmassnahmen auf die erste Hälfte der beruflichen Laufbahn abzielen: Vereinbarkeit von Beruf und Familie mit Kleinkindern, «Frauen in Männerberufe», Begabtenförderung.

Betriebliche Gleichstellungsmassnahmen richten sich nicht an alle Arbeitnehmerinnen insgesamt und nie explizit an die über 50-Jährigen, die vom beruflichen Aufstieg ausgeschlossen sind und die bei Schwierigkeiten, etwa mit der Betreuung von abhängigen Angehörigen, ohne Unterstützung vom Arbeitgeber dastehen. Viele ältere Frauen besetzen Stellen auf unteren Hierarchiestufen, die oft körperlich und geistig anstrengend sind und ein besonders hohes Risiko für arbeitsbedingte Verschleisserscheinungen bergen. Der tiefe Lohn während des Berufslebens und die bescheidene Rente im Ruhestand zwingen sie, «um jeden Preis durchzuhalten», auch unter gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen. Und schliesslich haben sie im Gegensatz zu einem bedeutenden Teil der Männer, die in Männerbastionen arbeiten, auch kaum die Möglichkeit, sich über eine Gewerkschaft Gehör zu verschaffen und kollektive Forderungen zu stellen.

Ältere Frauen, die gezwungen sind, im Erwerbsleben zu verbleiben oder sogar ihr Arbeits­pensum vor der Pensionierung noch zu erhöhen (weil sonst die BVG-Rente zu tief ausfällt), haben keine Aufstiegsaussichten und werden vom Arbeitgeber wenig oder überhaupt nicht unterstützt.

Die Unternehmen berücksichtigen selten die möglichen Auswirkungen von arbeitsbedingten Verschleisserscheinungen und schweigen zur Problematik der Betreuung von Enkelkindern oder betagten Eltern. Obwohl den Frauen in der zweiten Hälfte ihrer beruflichen Laufbahn weiterhin Betreuungsaufgaben zufallen, tragen die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, das Familienleben und der Sozialstaat dazu bei, dass immer mehr Personen sich gezwungen sehen, bis zu einem immer höheren Alter erwerbstätig zu bleiben. Dadurch stellt sich die wesentliche Frage nach den Arbeitsbedingungen und der Gesundheit am Arbeitsplatz bei den am meisten benachteiligten Arbeitnehmenden.

* Forscherinnen am Sozialwissenschaftlichen Institut der Universität Lausanne

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