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Marignano: Mythen und Mystifikationen

Dass die französisch- und italienischsprachigen Männer der Schweiz zu gleichberechtigten Eidgenossen wurden, verdanken sie Napoleon und dem französischen Direktorium. Sicher nicht den Bernern und Zürchern. Eine zeitgemässe Geschichte der Schweiz sollte die Herren ruhen lassen und von der Mehrheit der Bevölkerung, also von den Untertanen und den Frauen, ausgehen. 

Im anfangs Jahr rund um den Historiker Thomas Maissen entbrannten Streit über die sogenannten Schweizer Mythen fällt auf, dass diese Debatte von Deutschschweizer Männern geführt wird und dass sie sich um Mythen der Deutschschweiz dreht. Auch wenn Historiker diese Mythen bekämpfen, bleiben sie in einer Deutschschweizer Perspektive gefangen.

Geschichtsschreibung in der Blocher-Falle

Dass die «Schweizer» Heldengeschichten Mythen sind, hatte schon Max Frisch mit seinem «Wilhelm Tell für die Schule» (1971) klargemacht. Historiker Maissen hat nur sauber zusammengefasst, was wissenschaftlich längst bewiesen ist. Doch das nützt nichts.

Im Gegenteil: Sein Angriff auf das Geschichtsbild der SVP verstärkt im Medienkarussell gerade die Relevanz und die Bedeutung des Mythos – was Christoph Blocher dankbar bestätigen wird. Die ewige Beschäftigung mit der «nationalen Narration» führt uns immer wieder auf eine Geschichte der Deutschschweizer Männer zurück, als wäre diese die Geschichte der Schweiz.

Welsche und TessinerInnen waren rechtlos

Die meisten Argumente, die etwa in der Marignano-Debatte ins Feld geführt wurden, gelten nämlich im besten Fall für die acht und später dreizehn (deutsch-alemannischen) Orte, die bis 1798 die Eidgenossenschaft bildeten. Dasselbe gilt, wenn überhaupt, für so heikle Begriffe wie Neutralität, Unabhängigkeit, Freiheit und Demokratie, die wieder heiss diskutiert werden, als wären sie exklusive Schweizer Merkmale.

Dabei fällt Marignano genau in die Zeit, in der die deutschsprachigen Orte italienisch- und französischsprachige Gebiete gewaltsam eroberten und ihre Herrschaft entscheidend festigten. Vor 1798 waren die Welschen und Tessiner keine Eidgenossen; sie blieben rechtlose Untertanen.

Darüber müssen wir nicht weinen, Berner oder Zürcher Bauern und Bäuerinnen hatten auch nicht viel mehr Rechte. Aus Sicht der damaligen lateinischen Schweiz ist es jedenfalls deplatziert, über Neutralität, Unabhängigkeit und Freiheit zu streiten. Das war eher die Zeit, als «fremde Richter», um einen immergrünen Schweizer Politbegriff zu verwenden, nach Süden, ins Veltlin und später ins Waadtland geschickt wurden: fremde Richter aus der deutschen Schweiz, um es genau zu sagen – und zwar bis zur Französischen Revolution. Dies fällt unter den Tisch, sobald wir uns den «Schweizer» Mythen annähern.

Staatsbildung «von unten» gab es nicht

«Versuche der Staatsbildung von oben scheiterten stets am Widerstand der ländlichen Bevölkerung», schreibt der Historiker Oliver Zimmer in der NZZ. «Als die Städte Bern und Luzern (1653) ihre Herrschaft über das Land zu intensivieren suchten, rebellierten die Untertanen.» Der Autor vergisst, dass die Emmentaler und Entlebucher trotz Rebellion Untertanen blieben. Und dass ihr Versuch, die Eidgenossenschaft zu reformieren, blutig niedergeschlagen wurde – so wie unzählige weitere soziale Unruhen, etwa die von der Urner Obrigkeit als «Aufstand» abgestempelte Protestbewegung der Leventina im Jahr 1755. Niemand hört es gern: Alleine hätte die Landbevölkerung die «gnädigen Herren» des Ancien Régime nicht gestürzt. Wenn die französisch- und italienischsprachigen Männer der Schweiz zu gleichberechtigten Eidgenossen wurden, dann verdanken sie es dem französischen Direktorium und Napoleon.

Sicher nicht den Berner und Zürcher Herren und auch nicht den Urner und Schwyzer Obrigkeiten, die sich lange dagegen gesträubt haben. Wir müssen den Franzosen deswegen keine Altäre errichten. Aber weiter so tun, wie wenn sie für «die Schweiz» das absolute Übel gewesen wären, bedeutet, dass der Geist der gnädigen Herren noch nicht verschwunden ist.

Klüger als alle andern?

Das verborgene Skript hinter Oliver Zimmers Deutung besagt: die Schweizer waren eigentlich klüger als die anderen: «Ohne die (…) ländlichen Protestbewegungen wäre die Schweiz wahrscheinlich ein ganz gewöhnliches europäisches Land geworden. Stattdessen hielten sich Gemeindeautonomie, direktdemokratische Mitbestimmung (…) bis heute.»

Will heissen: Die Deutschschweizer waren schon immer die besten Demokraten – Romands und Tessiner können ja als ehemalige Untertanen nicht mitgemeint sein. Zimmers Beitrag wurde übrigens bereits vom Zürcher Historiker Philipp Sarasin kritisiert. Und auch Sarasin tappt mit einem Fuss in die Blocher-Falle, wenn er bemerkt: «‹Direktdemokratisch› jedenfalls ging es in der alten wie auch in der neuen Schweiz nach 1848 beileibe nicht immer zu – und schon gar nicht für alle.» Klar. Wenn die grosse Mehrheit der Bevölkerung aus Untertanen bestand – in allen Landesteilen übrigens – kann man in der Tat nicht von Demokratie sprechen.

Wenn wir uns wirklich von der alten nationalen Narration lösen wollen, müssen wir andere Wörter und andere Bilder benutzen sowie andere Akteure und Akteurinnen thematisieren. Ich denke, dass eine zeitgemässe Geschichte der Schweiz die Herren endlich ruhen lassen sollte und viel konsequenter von der Mehrheit der Bevölkerung, d. h. von den Untertanen und den Frauen, ausgehen müsste. Dafür braucht es auch Medien, die dafür offen sind und nicht genüsslich auf die Nächsten warten, die in die Blocher-Falle tappen.

* Sandro Guzzi-Heeb lehrt Geschichte der frühen Neuzeit an der Universität Lausanne. Er stammt aus dem Tessin und wohnt in der Region Bern.

Dieser Artikel erschien als Kommentar zum Historikerstreit in der NZZ vom 15. 4. 15.

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