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Nicht für 80 Prozent, sondern für alle

Seit den ersten Attacken von Reagan und Thatcher haben 40 Jahre Neoliberalismus den Service public unter Druck gesetzt. In der Schweiz führten die «Weissbücher» von Schmidheiny, De Pury und Konsorten zur Zerstückelung der PTT. Nun gehen die Gewerk­schaften in die Offensive. Eine grosse Tagung in Bern zur Sensibilisierung für den Service public bildete den Auftakt. Wir haben die Lage mit Alain Carrupt, Präsident von syndicom, erörtert.

 

 

«Ein starker Service public!», war die Devise der Tagung zur Sensibilisierung für die öffentlichen Dienstleistungen, die auf Einladung des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und zahlreicher Gewerkschaften, darunter syndicom, am 27. Februar in Bern stattfand.

Die Tagung bildete den Auftakt zu einer Kampagne, die den Service public in den Mittelpunkt der ­Diskussion rückt. Durch Sparprogramme der Kantone, Privatisierungen und Gewinnoptimierung gerät die öffentliche Infrastruktur unter Druck.

Alain Carrupt, Präsident von syndicom, hat ein Referat zum Thema «Spardruck in der Grundversorgung der Post» gehalten und mit uns in einem Interview darüber gesprochen.

Der Waadtländer «Bürgerverein zum Schutz der Nutzer von öffentlichen Diensten», Acidus, schlägt vor, die Post wieder zu verstaatlichen. Was hältst du davon?

Alain Carrupt: Es ist schwierig, etwas zu verstaatlichen, das immer noch dem Bund gehört. Die Post ist nicht privatisiert.

Es müsste allerdings wieder mehr Gewicht auf die politische Kontrolle gelegt werden. Über das Mittel der strategischen Ziele muss der Bundesrat den Grundversorgungsauftrag der Post wieder ins Zentrum rücken.

Ich begrüsse den langjährigen und ausdauernden Einsatz von Acidus für den Service public. Ideal wäre, wenn weitere Vereinigungen dieser Art ausserhalb des Kantons Waadt entstehen würden.

Welche Bedeutung hat der Service public für unsere Gewerkschaft?

syndicom ist über mehrere Branchen eng mit dem Service public verbunden: das Post- und das Fernmeldewesen erfüllen Grundversorgungsaufträge des Bundes, aber auch die Presse gehört meiner Auffassung nach zu den öffentlichen Diensten.

Trotz der Gesetze, welche die Post auf einen Grundversorgungsauftrag verpflichten, werden Poststellen geschlossen und durch Agenturen oder Haus-Services ersetzt. Bringt die Post nicht den gesetzlichen «umfassenden Service public» in Gefahr?

Die Post muss von Gesetz und Bundesrat festgelegte Anforderungen erfüllen. Neben ihren Aufgaben der Grundversorgung und ihren Pflichten als soziale Arbeitgeberin, die ebenfalls in den Strategiezielen des Bundes festgeschrieben sind, erwartet der Bundesrat von der Post auch anderes: dass sie ein Wachstum zeigt und Rentabilität, dass ihr Wert ständig steigt, dass sie dem Bund jedes Jahr eine Dividende – im letzten Jahr 200 Millionen – ausschüttet und dass sie ins Ausland expandiert. Das setzt die Post unter Druck. Dieses Mandat zwischen Grundversorgungsaufgaben und strengem wirtschaftlichen Imperativ ist hochgradig widersprüchlich, hier besteht ein gros­ses Dilemma.

Keine andere Post in Europa schafft es, eine Gewinnmarge von über 10 Prozent zu erzielen, wobei Postwesen und Banktätigkeit oft getrennt sind. Das entspricht praktisch der Rendite von Nestlé! Eine solche Produktivität kann nur über gefährliche Verdichtung der Arbeitsleistung erreicht werden, die Postangestellte mit ihrer Gesundheit bezahlen. Und Susanne Ruoff, die Konzernleiterin, spricht davon, die Stellen von Tausenden Pöstlern, die das Rentenalter erreichen, nicht mehr neu zu besetzen …

Tricks in der Buchhaltung, um Poststellen zu belasten, fehlende Transparenz und ein «Gesetz des Schweigens» bei Verhandlungen mit den Gemeinden: Die Medien berichten von fragwürdigen Methoden der Post. Wie stellt sich syndicom dazu?

Das wurde in den Medien bemängelt und auch in der Politik, im Parlament. syndicom fordert schon lange Transparenz. Wir erwarten namentlich zu den Poststellenschliessungen Auskünfte über den Stand der Dinge. Wir würden mehr Transparenz bezüglich der Planungskriterien begrüssen; und wir möchten, dass die Gemeinden besser über ihre Rekursmöglichkeiten, namentlich bei der PostCom, informiert sind. Letztes Jahr gab es bei der PostCom nur sechs Rekurse von Gemeinden. Das ist wirklich sehr wenig.

Wir bemerken auch, dass die Demokratie in den Gemeinden nicht wirklich funktioniert, weil die Behörden an Vertraulichkeitsklauseln gebunden sind. Die Exekutive entscheidet ohne Beizug ihrer Bevölkerung.

Was tut syndicom dagegen?

syndicom unterstützt jede Bürgerbewegung, die sich gegen die Schliessung von Poststellen wehrt. Wir begleiten diese Proteste wann immer möglich. Am syndicom-Kongress im Dezember haben die Delegierten einen Antrag massiv unterstützt, der wörtlich verlangt, dass syndicom «Strategien entwirft, wie der Schliessung von Poststellen und deren Ersatz durch Post­agenturen – und damit dem Ersatz von Postmitarbeitenden unter GAV Post durch Agentur-Mitarbeitende aus Branchen ohne GAV und Mindestlöhne – Einhalt geboten werden kann».

Im Jahr 2009 veröffentlichte die Post eine Liste der Poststellen, die sie «überprüfen» würde …

Tatsächlich war es zuerst die Gewerkschaft Kommunikation – Vorgängerin von syndicom –, die anhand von Vermutungen eine solche Liste veröffentlicht hat; das geschah parallel zu unserer Petition gegen die Poststellenschlies­sungen. Die Post hat ihre Liste erst hinterher, unter dem Druck der Gewerkschaften und der Bevölkerung, publiziert. Seither gibt es keinerlei Kontrolle mehr. Alles passiert häppchenweise. Sehr diskret. Oft werden wir erst nachträglich informiert – von Behörden, die zum Stillschweigen verpflichtet worden waren.

Sind die Postagenturen eine gute Lösung?

Die Post behauptet, dass 80 Prozent der Leute mit dem Service der Agenturen zufrieden sind. Hierzu stellt syndicom fest, dass es nicht die Aufgabe des Service public ist, die Bedürfnisse von 80 Prozent der Bevölkerung abzudecken, sondern dass er 100 Prozent im Visier haben muss. Rentabilität allein darf nicht das einzig wahre Kriterium sein. Was zählt, ist die Gewährleistung von möglichst der Gesamtheit der Bedürfnisse. Das kann man von einem öffentlichen Dienst erwarten.

In deinem Referat hast du gezeigt, dass eine ganze Anzahl Gefahren drohen: Rückgang des Postvolumens, Ausdünnung des Postnetzes, Lohndumping via Agenturen, Leistungsabbau, Arbeit unter hohem Druck. Welche Lösungswege siehst du?

Als Erstes: die langfristige Finanzierung des Postdienstes. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: einerseits die Beibehaltung des Restmonopols auf Briefen (50 Gramm), anderseits die Verwendung der Gewinne aus den Finanzdiensten der Post. Eine Privatisierung von PostFinance müssen wir unbedingt vermeiden.

Ausserdem muss für die Post der Auftrag zur Grundversorgung oberste Priorität bleiben, sie muss ein ­enges Poststellennetz aufrechterhalten. Drittens muss das Lohndumping beseitigt werden, indem das Personal der Agenturen unter den GAV Post kommt. Die universelle Kürzung der Arbeitspensen können wir verhindern, indem wir den Zustellschluss auf eine spätere Tageszeit schieben. Und sollte sich der Rückgang des Postvolumens beschleunigen – weil die Post zu wenig zu seiner Erhaltung unternimmt –, müssen früh genug Massnahmen zur beruflichen Umschulung ergriffen werden.

Dann ist der Rückgang des Post­volumens also eine Tatsache?

Auf dem Gebiet betreiben die Führungskräfte der Post Katastrophismus. Claude Béglé, ehemaliger Konzernleiter Post, kündigte 2009 an, dass «die Briefpost bis 2015 um 30% zurückgehen» werde. Derzeit beträgt der Rückgang lediglich 10 Prozent. Die Schweizerinnen und Schweizer hängen wohl mehr an der Briefpost, als man dachte.

Und die Hauptursache für den Stellenverlust im Zustellbereich ist die maschinelle Sortierung mit dem grossen Projekt Distrinova! Warum hätte die Post Hunderte Millionen Franken in einen Dienst investiert, der angeblich untergeht? Entweder ist ihre Kommunikation widersprüchlich, oder es wurden falsche Entscheidungen gefällt. Nicht die Abnahme des Postvolumens von 2 Prozent im letzten Jahr ist die Hauptursache für den Stellenabbau, sondern die Absicht, Personal durch Maschinen zu ersetzen!

Ergaben sich neue Stossrichtungen aus der Service-public-Tagung?

Einige Referate konnten zeigen, dass öffentliche Dienstleistungen selten rentabler und kostengünstiger werden, nachdem privatisiert wurde. Das Beispiel der Eisenbahn ist diesbezüglich sehr aussagekräftig, insbesondere in England, wo die Privatisierung nicht nur für die Arbeitnehmenden grauenhaft war, sondern auch für die Sicherheit der Passagiere. In Europa laufen derzeit sehr gefährliche Umwälzungen, die auf eine schleichende Liberalisierung des Passagierverkehrs abzielen.

An der Tagung wurde auch die Gefahr einer Privatisierung der Wasserversorgung thematisiert. syndicom schliesst sich übrigens als eine der ersten Schweizer Non-Profit-Organisationen der Initiative «Blue Community» an. Damit setzt sich unsere Gewerkschaft für den öffentlichen Zugang zu Trinkwasser als Menschenrecht ein. Wir treten also auch für den Service public ein, indem wir nur noch Trinkwasser aus der öffentlichen Versorgung verwenden und auf Flaschenwasser verzichten.

Wie stark ist deine persönliche Verbundenheit mit dem Service public?

Sie ist emotional sehr stark. Ich bin quasi in einem Postamt aufgewachsen! Das ist tief in mir verankert. Die öffentlichen Dienste sind unabdingbar, nicht nur, damit die Qualität der Dienste gewährleistet ist, sondern vor allem auch, weil es das Wesen der Demokratie ausmacht, dass die Grundversorgung eines Landes in den Händen der Gemeinschaft liegt und nicht in privaten. Sonst leiden immer die darunter, die sich am wenigsten wehren können.

Interview: Yves Sancey

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