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Ohne Hierarchie, ohne Doktrin

Zwanzigtausend Menschen aus aller Welt versammelten sich Mitte März am zwölften Weltsozialforum in Tunis. Impressionen und Wortmeldungen von gewerkschaftsnahen Mitgliedern der schweizerischen Delegation. 

 

Auf den ersten Blick ist es nur ein grosses Volksfest. Auf dem Gelände der El-Manar-Universität säumen Essenszelte und viel Musik die Laufwege zwischen den Fakultäten. Aber auch unzählige Informationsstände, palästinensische Aktivisten, die sich singend hinter ihrer Flagge versammeln. Globalisierungskritiker aus der ganzen Welt tauschen Adressen und Neuigkeiten, besuchen internationale Diskussionsrunden zu «Informeller Ökonomie», Seminare mit dem Titel «Auswirkungen des TISA-Abkommens auf die Bildung», Workshops zu «Short-Film Shooting» und Vollversammlungen, welche den «Schuldenerlass für Entwicklungsländer» fordern.

Dem WEF zum Trotz

Laut den Organisatoren haben sich 20 000 einzelne Teilnehmende und 4300 Organisationen aus 120 Ländern angemeldet. Obwohl knapp eine Woche vor der Eröffnung ein Anschlag im Bardo-Museum in Tunis 24 Menschen das Leben kostete, habe es nicht mehr als zehn Absagen gegeben.

Geboren wurde das Weltsozialforum 2001 in Porto Alegre (Brasilien): Als Akt des Widerstands gegen das ­World Economic Forum (WEF), die Wirtschaftsgipfel der G8-Länder und die Bestrebungen der multinationalen Unternehmen, welche die ganze Welt unter den Mächtigen aufteilten, ohne die Betroffenen in den Entwicklungsländern mitreden zu lassen.

«Die Zivilgesellschaft suchte nach neuen Formen des internationalen Kontaktes, nach einem Ideenaustausch ohne Hierarchien, ohne einheitliche Doktrin. Eine Gegenposition zum WEF», sagt Peter Niggli, der Geschäftsführer von Alliance Sud. Die entwicklungspolitische Arbeitsgemeinschaft wirkt schon seit Jahren an der Reiseorganisation der schweizerischen Delegation ans WSF mit. Unter den 70 Schweizer Teilnehmenden sind Parlamentarier, Gewerkschafterinnen, Journalisten und Vertreterinnen von NGOs.

Antreten gegen eine «immer komplexere Realität»

Ein Teilnehmer ist Sergio Ferrari. Er ist als Sprecher der Organisation E-changer hier, die soziale Bewegungen mit Expertise unterstützt, und war früher Vorstandsmitglied der Branche Presse und elektronische Medien von syndicom. Ihn beeindruckt die Kraft, die der Anlass auch bei der zwölften Austragung noch hat: «Nach den Attentaten dachten wir, das Forum sei gestorben. Nicht aus Sicherheitsbedenken, sondern weil die Globalisierungskritiker einer immer komplexeren Realität entgegentreten müssen.» Die Reife der Diskussionen in den Workshops und Versammlungen habe ihn überrascht und wieder neu begeistert. E-changer hat am Parlamentarierforum, das innerhalb des WSF tagte, eine Initiative vorgestellt. Sie verlangt, dass Unternehmen mit Sitz in der Schweiz auch verantwortlich für die Einhaltung der Menschenrechte weltweit seien. Die Idee wird nun von vielen Parlamentarierinnen und Parlamentariern in ihr eigenes Land getragen.

«La femme tunisienne»

Die ehemalige syndicom-Zentralsekretärin Therese Wüthrich ist zum zweiten Mal in Tunesien, sie hat bereits am Forum 2013 teilgenommen. «Damals wie heute sind viele Frauen aus dem Maghreb am Forum präsent. In den Workshops, die ich besucht habe, waren immer Frauen auf dem Podium vertreten.» Wichtig sei ihr auch jeweils das Vorprogramm zum WSF, das von ­E-changer/Comundo und Alliance Sud organisiert wird. «Ich habe heuer ein Frauenhaus und die unabhängige Wahlkommission besuchen können.» Die Wahlkommission führe Kampagnen auf dem Lande durch, um die AnalphabetInnen zu erreichen. «Offenbar war das auch bei Frauen erfolgreich», freut sich Wüthrich, «viele auf dem Land haben Kalthoum Kennou gewählt, die einzige Frau, die Ende 2014 am Präsidentschaftswahlkampf teilgenommen hat.» Kalthoum Kennou ist eine eindrückliche Frau, die der Schweizer Delegation vieles über «La femme tunisienne» erzählt hat, die kämpferische tunesische Frau. Und auch darüber, wie wenig die Frauen andererseits in der Regierung, im tunesischen Parlament oder in den Gewerkschaftsleitungen vertreten sind.

Der grüne Waadtländer Ständerat Luc Recordon war seit 2004 jedes Jahr dabei. «Für mich ist das eine Weiterbildung. So wie ein Arzt einen Kongress besucht, gehe ich als Politiker an das Weltsozialforum», sagt er. Mindestens so wichtig wie der internationale Austausch seien ihm aber die Kontakte, die er innerhalb der Schweizer Delegation knüpfen könne. «Ich entdecke jedes Jahr neue Schweizer Kolleginnen und Kollegen mit denselben Anliegen wie ich.» Er hoffe, sagt Recordon, das Forum bleibe weiterhin so «kaleidoskopisch» wie bisher. Es gebe nämlich Bestrebungen, die Pluralität in eine einzige, politisch einheitliche Bürgerbewegung zu verwandeln.


Ideen für tunesische Angestellte von Schweizer Firmen
Die Gewerkschaft Unia ist mit einer grösseren Delegation in Tunis. Für Geschäftsleitungsmitglied Pierluigi Fedele sind die Arbeiterorganisationen unbedingt Teil der viel beschworenen Zivilgesellschaft, die sich hier trifft. Fedele sieht sie auch heute noch als internationalistische Organisation, «auch wenn wir das in unseren alltäglichen Arbeitskämpfen ein wenig vergessen.»

Abgesehen von der ideellen Zugehörigkeit können auch konkrete Anknüpfungspunkte entstehen. «Nehmen wir beispielsweise Schweizer Firmen in Tunesien: Wir haben uns mit dem hiesigen Gewerkschaftsbund Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT) über Möglichkeiten ausgetauscht, wie wir die tunesischen Angestellten dieser Firmen unterstützen können.»

* Freie Journalistin und Co-Präsidentin Branchenvorstand Presse und elektronische Medien

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