Schon öfter habe ich mich durch ein brillantes Buchcover verführen lassen und war nachher bitter enttäuscht. Bei der Erzählung «Das dritte Licht» jedoch passt alles: Es ist ein für mich besonders kostbares Buch.

Die Autorin führt uns ins Irland der 1980er-Jahre. An einem heis­sen Sommersonntag liefert ein Vater seine kleine Tochter bei Verwandten auf einer entlegenen Farm ab. Sie soll dort eine Weile bleiben, denn die Mutter ist schon wieder schwanger und es fehlt an Essen und Geld. Das Mädchen erfährt beim kinderlosen Ehepaar zum ersten Mal in seinem Leben echte Zuneigung, Zärtlichkeit und Glücksgefühle. Badet zum ersten Mal in frischem heissem Wasser, erhält ein neues Kleid, ein riesiges Bett, Fruchtgummis, Milch und tägliche Ermutigung; es sind paradiesische Zustände. Wenn es nur nicht das traurige Geheimnis gäbe, das über dem fremden Ort schwebt … Das Trauma wird in Schweigen gehüllt, und doch spürt es das Mädchen und erfährt es dann auch: Die Pflegeeltern hatten einen Sohn, der in der Jauchegrube ertrank.

Claire Keegan erzählt aus der Perspektive des Mädchens, und jedes Wort stimmt, keines ist zu viel, keines falsch. Es gibt auch viel Unausgesprochenes, Pausen, Schweigen. Die starke, fast beklemmende Atmosphäre der Erzählung ist jederzeit spürbar und es ist kaum möglich, ihrem melancholischen Zauber zu entrinnen.

Ich war fassungslos, als die Geschichte nach zwei intensiven Lesestunden schon zu Ende war. Ich wünschte mir, sie ginge weiter. Und dass sie nicht weitergeht – oder nur in meinen Gedanken –, macht wohl genau ihre Stärke aus. Die 1968 geborene Claire Keegan wuchs mit ihrer Familie auf einer Farm in Irland auf. Nach Studien in New Orleans, Cardiff und Dublin lebt sie heute wieder auf dem Lande, in der irischen Grafschaft Wexford.

Christine Hunziker ist Buchhändlerin und Museums­mitarbeiterin.