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Schuften bis zum Umfallen. Darum ist Flexibilisierung Betrug

Während überall Experimente mit kürzeren Arbeitszeiten blühen, greifen Arbeitgeber das Sozialmodell an. Sie fordern die Entgrenzung der Arbeit und Mehrarbeit. Gratis.

© Thierry Porchet

Oliver Fahrni

Was sollte man schon gegen Flexibilisierung haben? Der Begriff suggeriert Freiheit. Es ist doch fein, wenn ich im März Überstunden akkumulieren kann, dafür im Mai ein paar Freitage nehme, und morgen früh komme ich später, weil ich mit der Klassenlehrerin meiner Tochter sprechen will. Seien wir nicht naiv. Unsere Bedürfnisse spielen bei der Flexibilisierung keine Rolle. Sie dient den Unternehmen dazu, unsere Arbeit an eine möglichst profitable Betriebsführung (zum Beispiel an die Auftragslage) anzupassen, Lohnkosten und andere Kosten zu senken und heimlich die Arbeitszeiten zu erhöhen.

Die Länge der Arbeitszeiten und der Takt (Rhytmus, Schichteinteilung usw.) unserer Arbeit unterliegen dem Kräftevehältnis zwischen Arbeit und Kapital. Am Ende bestimmt immer das Unternehmen, wann ich arbeiten muss, wann länger als die Normalarbeitszeit, und ob ich im Mai wirklich kompensieren kann. Flexibilisierung der Arbeit ist das grosse Dada der Arbeitgeber. Im Kern geht es darum, unsere Arbeit mit möglichst wenig Regeln (die uns schützen) zu vermarkten. Dafür haben Betriebswirtschafter Dutzende von Formen erfunden.

Wachstum und Gewinn ohne Arbeit

Gleitarbeitszeit mit Kernzeiten sind noch deren mildeste Form. Über Zeitkonten (etwa aufs Jahr) arbeiten wir nur, wenn das Unternehmen uns braucht. Damit wird uns ein Teil des Unternehmerrisikos aufgebürdet, was eigentlich illegal ist. Vertrauensarbeitszeit trägt ihren Namen schlecht. Sie ist meistens eine Form von Betrug, die «de-facto-Verlängerung der Arbeitszeiten ohne jegliche zeitliche oder finanzielle Kompensation», sagt die Arbeitsforscherin Christa Herrmann. Bei flexibler Arbeitszeit fallen die Lohnzuschläge weg. Vertrauensarbeitszeit wird oft mit Produktionsinseln kombiniert, etwa in den Arbeitsformen des Toyotismus. Reicht den Unternehmen diese interne Flexibilisierung nicht, richten sie Arbeit auf Abruf ein oder greifen auf Outsourcing zurück – heute eine  grassierende Form externer Flexibilisierung. In fast allen Betrieben der Schweiz wird heute eine Kombination diverser Formen von Outsourcing, flexiblem Arbeitseinsatz und verdichtetem Arbeitstakt eingesetzt.

Das ist das Resultat des neoliberalen Umbaus, der in der Schweiz in den 1980er-Jahren begann. Den Neoliberalen geht es darum, den Schutz der Arbeit durch Gesetz und Gewerkschaften zu zerstören. Ihr Traum ist Wachstum und Gewinn ohne Arbeit. Eine Illusion, weil nur lebendige Arbeit Wert schafft. Seither geben die Besitzer der Unternehmen die Produktivitätsgewinne nicht mehr weiter. Diese Verteilung war die Grundlage der Sozialpartnerschaft. Folgen: Die Löhne stagnieren, der Lohnkostenanteil sinkt in fast allen Branchen, und die Lohn- und Vermögensdiskrepanzen explodieren. Darum sind Gesamtarbeitsverträge so wichtig. Im detailreichen Feilschen um Zeitformen, Pausen, Schichtorganisation, Ausnahmen bei der Arbeitszeit usw. wird sichergestellt, dass wir unsere Arbeit und unsere Freizeit verlässlich planen können. Das Schweizer Arbeitsgesetz leistet das nicht. Es ist so lasch, dass es fast alles zulässt, was die Aktionäre freut. Der Link auf dieser Seite führt zu den wichtigsten Bestimmungen. Eine ernüchternde Lektüre.

Dennoch versuchen die Arbeitgeber heute, auch diesen schwachen Schutz auszuhebeln. Drei Punkte stehen auf ihrer Agenda: Die Erhöhung der Arbeitszeit. Die Abschaffung der Arbeitszeitkontrolle. Und die Aufweichung der Arbeitsverträge. Strategisches Ziel ist dabei, die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit zu beenden, also die Verfügungsmacht über die Arbeitenden auszudehnen. Auch hier argumentieren sie mit der Freiheit. Absurd: Will ich 60 Stunden ohne Lohnzuschlag arbeiten, zieht mir heute niemand den Stecker. Das Gesetz soll umgeschrieben werden, damit man die Arbeitenden zur Gratismehrarbeit zwingen kann. Fernziel: Outsourcing der Arbeit in neue Formen von Heimarbeit (Crowdworking usw.) ohne Arbeitszeitvorschriften.

Da steht den Gewerkschaften eine harte Konfrontation bevor. Sie wollen im Gegenteil die Normalarbeitszeit rabiat reduzieren, um die schwindende Menge digitalisierter Arbeit besser auf alle zu verteilen.
 

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