Schweiz ist eines der letzten Länder
Mindestlöhne liegen im Trend. 21 von 28 Staaten der EU haben sie eingeführt. Selbst die USA kennen dieses Instrument. Es gleicht Lohnunterschiede aus und die höhere Binnennachfrage gibt Impulse für Wachstum und Beschäftigung. Ein Dossier von Peter Krebs
Dossier Mindestlohn
Mit einem Zitat des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt aus dem Jahr 1933 startete der Deutsche Gewerkschaftsbund DGB vor sechs Jahren seine Kampagne zur Einführung des Mindestlohns in Deutschland: «Unternehmen, deren Existenz lediglich davon abhängt, ihren Beschäftigten weniger als einen zum Leben ausreichenden Lohn zu zahlen, sollen in diesem Land kein Recht mehr haben, weiter ihre Geschäfte zu betreiben.» Nun stehen die deutschen Gewerkschaften kurz vor dem Ziel. Laut dem Koalitionsvertrag der Regierungsparteien SPD, CDU und CSU soll in der grössten europäischen Volkswirtschaft ab dem 1. Januar 2015 ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gelten. Damit schliesst sich eine der letzten Lücken auf der Europakarte der Mindestlöhne.
21 der 28 EU-Länder legen gesetzliche Mindestlöhne fest. Eine Ausnahme bilden noch die skandinavischen Staaten. In Dänemark, Schweden und Finnland wird die Höhe der Mindestlöhne aber in Verträgen zwischen den Tarifparteien geregelt. Die grosse Mehrheit profitiert davon, über 90 Prozent der Beschäftigten sind in Gesamtarbeitsverträgen erfasst – weit mehr als in der Schweiz. Und selbst in diesen Ländern werden angesichts der zunehmenden Liberalisierung des Dienstleistungssektors und der damit einhergehenden Arbeitsmigration gesetzliche Mindestlohnmodelle diskutiert. Auch Österreich konnte auf gesetzliche Lohnuntergrenzen verzichten, da es über eine sehr hohe Tarifbindung verfügt. 2007 einigten sich die Sozialpartner jedoch auch hier auf eine feste Lohnuntergrenze.
Bedenken haben sich europaweit zerstreut
Natürlich werden auch in Deutschland Bedenken gegen den Mindestlohn vorgebracht. Der «Wirtschaftsweise» Christoph Schmidt behauptet, er werde hunderttausende Stellen kosten.
Solche Befürchtungen gab es schon, bevor die Niederlande 1968 den gesetzlichen Mindestlohn als eines der ersten Länder einführten. Sie haben sich nicht bestätigt. In Holland ist der Mindestlohn heute unbestritten. Es besteht ein Konsens darüber, dass eine Vollzeitbeschäftigung die angemessene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen muss. Der Mindestlohn wird regelmässig an die Entwicklung der Preise und der Tariflöhne angepasst und liegt heute bei 9,11 Euro pro Stunde. Fast gleich hoch ist er in Belgien, wo sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer 1975 auf einen nationalen Mindestlohn einigten. Keine relevante soziale Kraft stellt ihn mehr in Frage.
Mit 11,10 Euro besitzt Luxemburg mit seiner offenen Volkswirtschaft den höchsten Mindestlohn in Europa, für qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liegt er noch 20 Prozent höher. Frankreich hat eine Lohnuntergrenze sogar schon 1950 eingeführt. Seit 1970 sorgt der SMIC, der wachstumsorientierte berufsübergreifende Mindestlohn für ein angemessenes Kaufkraft-Niveau der untersten Einkommensgruppen. Zwar sind die Auswirkungen des in Europa zweithöchsten Mindestlohns von heute 9,53 Euro auf die Beschäftigung umstritten. Es steht jedoch fest, dass er dazu beiträgt, Ungleichheiten abzubauen und die Binnennachfrage zu stützen. Er setzt Impulse für Wachstum und Beschäftigung.
Auch in Grossbritannien hat die Zahl der Arbeitsplätze zugenommen, seit das Land 1999 einen einheitlichen nationalen Mindestlohn einführte. Inzwischen geniesst er deshalb in der Politik und bei der Bevölkerung ein hohes Ansehen. Gleiches gilt für Irland, das den Mindestlohn ein Jahr später beschloss – 2000. Auf der Grünen Insel, die in den 1980er-Jahren ein enormes Wirtschaftswachstum verzeichnete, war «Armut trotz Arbeit» zuvor weit verbreitet.
Die meisten neuen EU-Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa kennen ebenfalls Mindestlöhne. Sie sind vergleichsweise tief angesetzt und dienten nicht zuletzt dazu, die Folgen des wirtschaftlichen und sozialen Umbaus nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft abzufedern.
Obama erhöht den Mindestlohn
Und wie sieht es in den wirtschaftsliberalen USA aus? Präsident Roosevelt hat 1938 tatsächlich einen (bescheidenen) gesetzlichen Mindestlohn eingeführt. Seitdem wurde er regelmässig erhöht, zuletzt auf 7,25 US-Dollar. Für Beschäftigte von Unternehmen, die auf Vertragsbasis für die Regierung tätig sind, hat Präsident Obama den Mindestlohn inzwischen auf 10,10 US-Dollar angehoben (9 Franken). «Ich werde tun, was ich kann, um die Gehälter der arbeitenden Amerikaner zu erhöhen», sagte er bei der Unterzeichnung des Dekrets.
Die einzelnen US-Bundesstaaten können den Mindestlohn übrigens höher ansetzen: Die gleiche Kompetenz räumt die Mindestlohn-Initiative des SGB den Schweizer Kantonen ein.
Peter Krebs