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«Sie dürfen Vorschläge einbringen – mehr nicht»

Der Soziologe Heinz Gabathuler erforscht die Situation der betrieblichen Arbeitnehmer­vertre­tungen (ANV) in der Schweizer Privatwirtschaft und hielt am Kongress dazu ein Referat. In den Mitwirkungs­rechten sieht er nur zaghafte Ansätze einer möglichen Wirtschaftsdemokratie.

 

Heinz Gabathuler, was interessiert Sie als Forscher an den ANV?

Mich interessieren diese Gremien als soziale Institutionen im Spannungsfeld zwischen Belegschaft, Management und Gewerkschaften. Der Betrieb als Ebene der Arbeitsbeziehungen hat in letzter Zeit eine erhöhte Bedeutung erlangt. Dies zeigt sich etwa in der Tendenz, Verhandlungen über Lohnanpassungen von der Branchen- auf die Unternehmensebene zu verlagern.

Die grosse Vielfalt an Bezeichnungen und Formen macht es wohl schwierig, über dieses Thema zu kommunizieren.

In Deutschland ist der Begriff Betriebsrat fest verankert. In der Schweiz hingegen nennen sich die ANV auch Betriebskommission, Personalvertretung oder Angestelltenrat. Diese Gremien finden oft keine gemeinsame Sprache, obwohl sie eigentlich das Gleiche tun. 1952 hatten 2540 Betriebe eine Arbeiterkommission, 61% der ArbeiterInnen wurden von einem solchen Gremium vertreten. Heute wird nicht mehr gezählt, deshalb gibt es keine genauen Zahlen.

Wie kommen Sie denn zu Ihren Informationen?

Eigentlich ist zu den ANV ein grosses Wissen vorhanden, aber leider nur bei den direkt involvierten Personen auf Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerseite. Dort versuche ich die Informationen abzuholen, die über die theo­reti­sche Situation im Bereich Mitwirkungsrechte hinausgehen. Je nach Gesprächsbereitschaft kann das ziemlich mühsam oder sehr einfach sein. Wo gibt es welche ANV? Was spielen sie für eine Rolle? Wie kommt ein GAV zustande? Zu diesen Fragen gibt es keine neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse.

1994 wurde das Mitwirkungsgesetz eingeführt. Die Mitwirkung beschränkt sich da im Wesentlichen auf Information und Konsultation.

ANV haben das Recht, regelmässig von der Geschäftsleitung über die Lage des Betriebs informiert zu werden, insbesondere auch über die Beschäftigungslage. Sie dürfen Vorschläge einbringen bei einigen klar definierten Themenfeldern wie Arbeitszeitregelung, Unfallverhütung, Gesundheitsschutz – mehr nicht. Echte Mitbestimmung gibt es nur bei Fragen der beruflichen Vorsorge. Die Mitbestimmungsinitiative der Gewerkschaften wurde 1976 vom Volk abgelehnt. Sie hatte unter anderem gefordert, dass ANV auch in Verwaltungsräten Einsitz nehmen dürfen.

Immerhin kam vor drei Jahren die Mitbestimmung bei Sozialplänen dazu.

Bei Massenentlassungen muss das Vorgehen seit 2014 gemeinsam mit der ANV vereinbart werden. Es kann allerdings mühsam sein, bis sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer einigen. In GAV ist das meist klarer geregelt, wo Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände eingeschaltet werden können. Überhaupt ist die Realität betrieblicher Mitwirkung in der Schweiz in wichtigen Branchen stärker durch GAV als durch Gesetze geprägt. In GAV werden oft arbeitsrechtliche Normen definiert, die über das Gesetz hinausgehen, und man findet zum Thema Mitwirkung interessante zusätzliche Regelungen, vor allem in jenen Branchen, wo ANV seit langem verankert sind.

Ein ungelöstes Problem bleibt aber der mangelnde Kündigungsschutz.

Die besten Mitwirkungsrechte nützen nichts, wenn ArbeitnehmervertreterInnen Repressalien und missbräuchliche Kündigungen befürchten müssen. In anderen europäischen Ländern ist das weit besser geregelt. Einige Gewerkschaften, auch syndicom, versuchen deshalb das Problem auf Ebene der GAV anzugehen. Im neuen GAV UPC steht, dass Mitgliedern der Personalvertretung nicht aus wirtschaftlichen Gründen gekündigt werden darf – eine beispielhafte Regelung!

Welches sind eigentlich die «Interessen» der Belegschaft?

Natürlich stehen anständige Löhne und gute Arbeitsbedingungen im Vordergrund. Allerdings staunen manche Leute, die sich in ANV engagieren und häufig stark idealistisch motiviert sind, manchmal über gewisse Anliegen der Mitarbeiter. Klassiker sind die fehlenden Veloständer und das Kantinenessen. ANV müssen das Ohr permanent am Puls der Mitarbeitenden haben. Personalversammlungen sind dann geeignet, wenn es grös­sere Probleme gibt, wenn sich die ANV absichern und von der Basis ein Verhandlungsmandat geben lassen will. Oder wenn eine Gewerkschaft dem gesamten Personal ihren Standpunkt darlegen will.

Die ANV als Terrain des gewerkschaftlichen Aufbaus?

Wahlen in Personalvertretungen können die Gewerkschaften nutzen, um beispielsweise mit eigenen Listen Präsenz zu zeigen.

Sind ANV auch eine Art Ergänzung zur Personalabteilung und zum betrieblichen Sozialdienst?

Es kommt sehr oft vor, dass sich die ANV um ganz unspektakuläre Alltagsprobleme von Mitarbeitenden kümmern müssen, auch um private Probleme, die gar nicht im Betrieb angesiedelt sind. Viele MitarbeiterInnen vertrauen bei persönlichen Problemen mit Vorgesetzten eher auf die ANV als auf die HR-Abteilung.

Fördern ANV auch die Demokratie innerhalb eines Unternehmens?

Es gibt emanzipatorische Momente, die über die formalen Prozesse dieser Gremien hinausgehen. Ein äusserst bemerkenswerter Aspekt ist die Tatsache, dass es bei den Mitwirkungsrechten nicht darauf ankommt, ob man einen Schweizer Pass hat oder nicht. Alle paar Jahre erhalten die Angestellten die Gelegenheit, zu wählen oder sich wählen zu lassen, egal ob Ausländer oder Schweizer. Zweiter Punkt: Bei wichtigen Entscheidungen wird die Basis in die Entscheidungen einbezogen. Einige Arbeitnehmervertreter sind der Ansicht, dass sie nur ein Mandat zum Verhandeln haben. Entscheiden müsse die Betriebsversammlung.

Gibt es Chancen, von der Mitwirkung zur Wirtschaftsdemokratie zu gelangen?

Man kommt um die ANV nicht herum, wenn man über Wirtschaftsdemokratie diskutiert. ANV tragen dank dem Konsultationsrecht dazu bei, die Arbeitswelt menschlicher zu gestalten. Das Wahlrecht und die Möglichkeit der Belegschaft, ihre Meinung zu sagen, können aber nur zaghafte erste Keime einer möglichen Wirtschaftsdemokratie sein. Die wichtigste Aufgabe von ANV ist derzeit die Umsetzung von GAV im Betrieb. Gewerkschaftsprofis stehen ausserhalb und sehen oft zu wenig in die Betriebsrealität hinein. Wenn es aber beispielsweise um die Ausarbeitung von Alternativen zu grösseren Restruk­turie­rungen geht, kann das eine ANV meist nicht selber bewältigen.

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