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Tragödie um türkische Jugendliche

Mit «Reise zur Sonne» (1999) und «Pandora’s Box» (2008) hat die türkische Regisseurin Yeşim Ustaoğlu bewiesen, wie stark sie emotional und gesellschaftlich packende Geschichten filmisch umzusetzen vermag, ohne dabei sentimental oder übertrieben zu wirken. «Araf» setzt mehr noch auf leise Töne. Geri Krebs*

Feuer und flüssiger Stahl, der auf eine Halde gegossen wird: mit dieser Eröffnungsszene stimmt Yeşim Ustaoğlu ein auf den Filmtitel. «Araf» heisst «Fegefeuer» auf Türkisch – und gleichzeitig wird klar, dass sich die Geschichte in einer Industriestadt abspielt. In Karabük, an der Autobahn zwischen Istanbul und Ankara, gab es schon bessere Zeiten, und die Tage der Stahlproduktion dürften gezählt sein.

Ein Stück weit ausserhalb, im Niemandsland einer grossen Autobahnraststätte, arbeitet die 18-jährige Zehra in der Küche. Ihr gleichaltriger Arbeitskollege Olgun, ein gutaussehender Junge, der in jedem Hollywoodfilm ein Herzensbrecher wäre, ist unsterblich in Zehra verliebt. Er weiss aber nicht so recht, wie er ihr das klarmachen soll. Denn von seinem Wesen her ist er noch ein gros­ser Bub. Das merkt auch Zehra, der Olguns Annäherungsversuche nicht verborgen bleiben. Doch sie sieht in ihm nicht mehr als einen netten Kollegen.

Eines Tages lernt sie den Lastwagenfahrer Mahur kennen, einen rund zwanzig Jahre älteren, schweigsamen, etwas geheimnisvollen Mann. Sie verliebt sich in ihn, und es beginnt eine stürmische Liebe, die sie nur ihrer besten Freundin anvertraut. Zehra träumt davon, mit Mahur hinauszufahren in die weite Welt, weg aus dem Mief von Kleinstadt, Raststätte und konservativer Familie.

Auch wenn der Plot nach Groschenroman klingt, entwickelt er sich im äusserst langsamen Rhythmus der zwei intensiven Filmstunden zu einer Tragödie für Zehra und Olgun. Setzte Yeşim Ustaoğlu in «Reise zur Sonne» und «Pandora’s Box» noch mehr auf die vordergründige Erzählung (der Freundschaft eines Türken zu einem Kurden, einer Annäherung zwischen einem dauerkiffenden Jungen und seiner an Alzheimer leidenden Grossmutter), so vertraut sie hier mehr auf die Kraft ihrer ungemein starken Bilder.

Unbedingt erwähnen muss man deshalb auch die grossartige Kameraarbeit von Michael Hammon. Der gebürtige Südafrikaner hat sich einen Namen gemacht durch die Arbeit mit Andreas Dresen. Und so wie Hammon es in Dresens «Wolke 9» oder «Halt auf freier Strecke» geschafft hat, Menschen in emotionalen und existenziellen Ausnahmesituationen zu zeigen, ohne dass es auch nur einen Moment nach voyeuristischer Ausschlachtung oder Peinlichkeit aussah, so schafft er es auch in den heftigsten Szenen von «Araf», stets authentisch und glaubwürdig zu bleiben. Ohne zu viel zu verraten, sei nur gesagt, dass das, was Olgun und Zehra durchmachen, in der fast wortlosen Intensität mit den Erfahrungen des Krebskranken in «Halt auf freier Strecke» vergleichbar ist oder dem Liebesleid der Betagten in «Wolke 9».

Gründe für die türkische Protestbewegung

Gleichzeitig ist «Araf» ein Film über das Leben in einer Gesellschaft, in welcher ein bigottes und kleinkariertes Regime seinen Untertanen die Gestaltung ihres Privatlebens bis ins Letzte vorschreibt: Arbeit, Familie, Konsum – wer sich nicht unterordnet in diesem rigiden Normensystem und wer in seinem Provinzleben noch etwas anderes will als gehorchen, heiraten und schwachsinnige Fernsehshows konsumieren, wird gnadenlos ausgegrenzt – mit bisweilen tödlichen Folgen.

So gesehen ist Yeşim Ustaoğlu eine Visionärin. Es waren letztlich diese Hintergründe, die im Frühsommer breite Bevölkerungsschichten zu Hunderttausenden auf die Strasse trieben, in eine Protestbewegung, die in der jüngeren Geschichte der Türkei beispiellos ist.

* Geri Krebs ist Filmjournalist in Zürich.

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