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«Unser Beruf öffnet sich und bietet mehr Möglichkeiten»

Interview mit Magali Philip

 

Der Journalistenberuf befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Darüber sprachen wir mit einer Social-Media-Spezialistin, die auch eine Facebook-Gruppe zu dieser Frage moderiert. Seit letztem September ist Magali Philip Social-Media-Spezialistin bei der RTS. Sie arbeitet dort in einem Team, das für den öffentlichrechtlichen Sender eine Social-Media-Strategie entwickelt und für deren Umsetzung sorgt. Daneben initiiert und begleitet sie Projekte von Kolleginnen und Kollegen, die auf den sozialen Netzwerken aktiver sein wollen.

Mit einem Smartphone können heute qualitativ gute Fotos gemacht werden. Immer mehr erhalten wir die Informationen über die sozialen Netzwerke. Die RTS steht vor grossen Herausforderungen.

Magali Philip: Ja, die Berufe verändern sich. Wie alle Medien befinden wir uns in einer Phase des Wandels. Wir stellen fest, dass unser Radio- und Fernsehpublikum «alt» ist. Die Morgennachrichten und die Tagesschau am Abend erreichen ein Publikum von durchschnittlich über 60 Jahren. Bei der Website und bei Couleur3 beträgt das Durchschnittsalter etwa 40 Jahre. Die Jungen zwischen 15 und 25 oder zwischen 20 und 30 Jahren erreichen wir kaum oder gar nicht. Früher gab es einen fliessenden Übergang, von Couleur3 zur La Première zum Beispiel. Heute ist das nicht mehr so einfach. Um den Anschluss nicht zu verlieren, muss man auf diesen Plattformen präsent sein. Unsere Berufe stehen vor grossen Herausforderungen: Wie kann man die Kompetenzen – die bei der RTS in hohem Masse vorhanden sind – behalten und sie an die Anforderungen der sozialen Plattformen anpassen und weiterentwickeln.

Welche Aufgabe hast Du bei der RTS?
Ich arbeite an Projekten, die auf den sozialen Netzwerken weitergetragen werden. Das sind beispielsweise neue Sendungen oder Spezialsendungen. Ich stehe allen Kolleginnen und Kollegen bei Fragen zur Nutzung dieser Plattformen zur Verfügung (wirksame Veröffentlichung eines Videos, eines Fotos, Umgang mit Fans oder Kritikern einer Seite). Aus dem Team können auch Ideen und Projekte für Sendungen hervorgehen, die auf Twitter, Facebook, Instagram oder Snapchat ein neues Publikum erreichen sollen.

Ihr seid also für Eure Kolleginnen und Kollegen auch eine Unterstützung?
Genau. Wir haben auch ein Ausbildungsziel. Im Januar starten wir verschiedene Ausbildungsmodule für alle Kollegen der RTS. Diese können auf freiwilliger Basis daran teilnehmen und lernen, wie man eine Facebook-Seite verwaltet und wie man zum «Super-Journalisten vor Ort» wird, der mit seinem Smartphone twittert und Fotos und Videos macht.

Die neuen Technologien bieten viele neue Möglichkeiten. Wie wirken sich diese konkret in den Redaktionen aus?
Einige Journalisten sehen sich vorläufig noch als reine Presse-, Radio- oder Fernsehjournalisten. Ihre gesamte Ausbildung war darauf ausgerichtet. Und das hat natürlich immer noch seinen Sinn. Wenn man aber von sozialen Netzwerken spricht, so stellen sie fest, dass sie über diese Plattformen heute einen direkten Kontakt mit den Lesern, Zuhörern und Zuschauern haben und eigenen Themen verbreiten können. Auf den sozialen Netzwerken hat man beispielsweise einen grösseren Spielraum, als wenn man «nur» in einer Radio- oder Fernsehsendung erscheint. Dort wird zum Beispiel eine Reportage verlangt, die 30 Sekunden lang ist, obwohl wir vielleicht zwei Stunden an einer Kundgebung waren. Das kann etwas frustrierend sein. Mit diesem neuen Verbreitungskanal der Social Media wird die Journalistentätigkeit umfassender: man kann Fotos oder Videos, auch Tonaufnahmen für das Radio machen, Live-Tweets absetzen, mit Leuten interagieren und so Kontakte finden. Unser Beruf öffnet sich damit mehr als früher und wird dadurch bereichert.

Welches ist Deine letzte positive Erfahrung mit diesen Instrumenten?
Das «Exil»-Projekt, bei dem die Social-Media-Stelle der RTS von Anfang an einbezogen wurde. Wir hatten die Aufgabe zu überlegen, wie der Journalist Nicolae Schiau auf den sozialen Netzwerken auf journalistisch innovative Weise über seine Reise erzählen konnte, die er zusammen mit syrischen Flüchtlingen von der syrisch-türkischen Grenze bis nach Calais machte. Wir unterstützten und berieten ihn während seiner 20-tägigen Reise, die er mit Fotos und Videos auf Twitter, Instagram, Periscope und Soundcloud dokumentierte. Ich bin sehr stolz auf das Resultat: eine erweiterte Reportage, die eine echte journalistische Arbeit geblieben ist, aber mit der Nutzung dieser Netzwerke ein grosses Plus aufweist. Nicolae hat praktisch alles nur mit seinem Smartphone gemacht!

Gibt es mit diesen neuen Technologien nicht auch etwas weniger positive Seiten, wie es beispielsweise der letzte Fög-Bericht über die Medienqualität bemängelte?
Die grösste Gefahr wäre, unsere Kollegen nicht zu begleiten und zu unterstützen. Denn die Welt des Internets und der Netzwerke ist hart, und man kann Schiffbruch erleiden, auch wenn es in der Schweiz im Vergleich zu den USA oder sogar Frankreich noch im Rahmen bleibt. Man muss deshalb lernen, welche Codes in diesen Netzwerken gelten. Ich sehe eher die positive Seite, auch wenn ich in zwei Jahren vielleicht anderer Meinung bin. Die Gefahr ist vielleicht das «Alles - Sofort». Bevor man etwas postet, sollte man sich immer Gedanken machen. Wenn etwas einmal gepostet ist, wenn auch nur für drei Sekunden, kann ein Screenshot verhängnisvoll sein. Man vertritt sein Medium als Journalist oder Radio- oder Fernsehpersönlichkeit, man kann nicht einfach irgendetwas sagen.

Weshalb braucht es die Internetpräsenz?
Wenn man als Journalist heute nicht auf diesen Plattformen ist – nicht einmal als Besucher (man ist nicht verpflichtet, aktiv zu sein) –, so fehlt es einem meiner Meinung nach ganz klar an journalistischer Neugierde. Denn Vieles geschieht im Internet oder kommt von dort. Und dort findet sich auch das Publikum, das den traditionellen Medien immer mehr abhandenkommt – die unter 25-Jährigen. Diese Plattformen sind auch sehr nützlich, um Kontakte zu finden, um zu sehen, wer reagiert, und um nicht immer mit denselben Experten zu tun zu haben. Man muss aktiv sein, um Kontakt aufnehmen zu können.

Du verwaltest die Facebook-Gruppe «Etre journaliste au 21ème siècle». In einem Post auf dieser Seite machst Du Dich ein wenig über die traditionellen Medien lustig, die mit Codes auf die sozialen Netzwerke kommen, die überhaupt nicht mehr für die neuen Medien geeignet sind.
Ich habe das Beispiel des «Blick» verwendet. Dieser nutzt eine Facebook-Funktion, die jetzt für die Promis und die Journalisten verfügbar ist und Live-Video-Streaming auf der eigenen Facebook-Seite ermöglicht. In der Gruppe kritisiere ich freundschaftlich, dass sich der «Blick» damit begnügt hat, mit den früheren Codes des Journalismus zu arbeiten. Sie hatten also ein grosses Mikrofon mit dem Blick-Logo und führten Interviews wie im Fernsehen. Auf den sozialen Netzwerken wollen die Leute etwas Spontaneres – auch wenn das Spontane zuvor überlegt wurde. Sie wollen, dass man sie direkt anspricht und nicht, dass man ihnen eine Reportage zeigt.

Und welche Codes scheinen Dir besser geeignet?
In einer Reportage über die Kundgebungen am Rande der UN-Klimakonferenz in Paris filmt sich eine Journalistin mit einem Selfiestick in einer Demo. Sie ist vor Ort, sie erzählt live, was sie sieht. Man taucht in das Geschehen ein. Dieses Medium heisst AJ+ und gehört zu Al-Jazeera. Das ist sicher das Beste, was in den sozialen Netzwerken gegenwärtig gemacht wird. Die Idee war, ein jüngeres Publikum zu erreichen. Al-Jazeera hat junge Leute ohne Fernseherfahrung angestellt. Es gibt keine Website. AJ+ existiert nur auf den sozialen Netzwerken und hat einen Riesenerfolg. Viele Videos werden über eine Million Mal angesehen. Sie haben sehr spezifische Codes. Man steigt direkt ein ins Thema, mit wirkungsvollen Worten und starken Bildern. Es gibt keine Einleitung. Grafisch ist es sehr stylisch und alles wird untertitelt. So kann man sich das Video auch ohne Ton im Bus oder Zug anschauen. Im Moment lassen sich alle davon inspirieren.

Welche Bilanz ziehst Du nach sechs Monaten über Deine Facebook-Gruppe «Journalisme du 21ème siècle» und die Diskussion?
Ich bin ziemlich zufrieden damit, weil die Diskussionen abgesehen von einer oder zwei Ausnahmen ziemlich interessant und sachbezogen sind. Die Seite wird von vielen Berufskollegen gelesen, ich erhalte viel Feedback. Wenn dies ermöglicht, in den Redaktionen etwas zu bewirken, ist das Ziel erreicht. Ich mache das auch, weil ich auch Ausbildungskurse für die jungen Praktikanten im «Centre de formation au journalisme et au multimédia» (CFJM) in Lausanne und in den Regionalmedien gebe. Dies kann ihnen ermöglichen, über diese Gruppe über die Neuigkeiten auf dem Laufenden zu bleiben.

Interview: Yves Sancey

Kurzbiografie Magali Philip
Seit 1999 BR-Journalistin bei der RTS. Reportagepreis der französischsprachigen öffentlichen Radiosender im Jahr 2010. Mit dem Hashtag #sidibouzid in den Social-Media-Zaubertrank gefallen und seither nicht mehr davon weggekommen. Redakteurin der Sendung «Sonar», die zwei Jahre lang das Thema Internet beleuchtete. Seither Social-Media-Spezialistin für die RTS und Redakteurin der Sendung «Vertigo». Betreut die Facebook-Seite «Etre journaliste au 21ème siècle», auf der Medienschaffende und Leser-Zuhörer-Zuschauer und Internetnutzer miteinander diskutieren. Seit 2012 Ausbildnerin im Bereich soziale Netzwerke (CFJM).

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