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Von 1160 Franken kann man nicht leben

Am 25. September kommt AHVplus an die Urne. Die Initiative fordert eine Erhöhung der AHV-Renten um 10 Prozent. Der Frauentag vom 14. Juni steht schon im Zeichen dieses Volksbegehrens. Ein Gespräch mit Patrizia Mordini, Michael Moser und Rodolphe Aeschlimann, welche bei syndicom die Frauen, die Jungen sowie die Rentnerinnen und Rentner vertreten. 

 

Yves Sancey: Das Betriebsergebnis der AHV ist 2015 um 559 Millionen Franken gesunken. Wie soll man da die Renten um 10 Prozent erhöhen können?

Rodolphe Aeschlimann: Man sollte nicht die Ergebnisse eines einzelnen Jahres zum Massstab nehmen. Ich war lange Zeit Mitglied in der Pensionskasse einer Gewerkschaft und weiss, dass man einen Zeitraum von mehreren Jahren als Grundlage nehmen muss.

Patrizia Mordini: Die Rechte spielt das aktuelle Defizit hoch. Den Eintritt der Babyboom-Generation ins Rentenalter kann die AHV gut meistern.

AHVplus dürfte zwischen 3,6 und 4,1 Milliarden Franken jährlich kosten. Wie können diese zusätzlichen Mittel beschafft werden?

Rodolphe Aeschlimann: Es ist eine paritätische Erhöhung der Lohnbeiträge um 0,8 Prozent vorgesehen (je 0,4 Prozent von den Arbeitgebern und ArbeitnehmerInnen). Dies ist durchaus vertretbar. Die AHV-Beitragssätze wurden im Gegensatz zu den Pensionskassenbeiträgen seit 1975 nicht mehr angepasst.

Michael Moser: Bei einem Bruttojahreslohn von 54 000 Franken würde der zusätzliche Lohnabzug pro Jahr nur gerade 200 Franken ausmachen. Die Rente aber würde um über 2000 Franken jährlich steigen.

Brauchen die Pensionierten dieses «kleine Plus», das die Initiative fordert, wirklich?

Rodolphe Aeschlimann: Für viele Rentnerinnen und Rentner ist dies sehr wichtig. Die zweite Säule gibt es erst seit 1986. Die Situation der Altersgruppen, die schon vorher Beiträge zahlten, hängt vom jeweiligen Unternehmen ab. So sind Pensionierte der grafischen Industrie häufig weniger gut gestellt als jene der PTT.

Wie wird denn diese Rentenerhö­hung das Leben konkret verändern?

Rodolphe Aeschlimann: Jedes bisschen zählt. Die Krankenkassenprämien steigen jedes Jahr. Im Kanton Freiburg bezahlen meine Frau und ich monatlich 1045 Franken, obwohl wir weder privat noch halbprivat versichert sind! Es gibt zwar etwas Ergänzungsleistungen, aber jetzt kommt noch die Unfallversicherung hinzu, die wir bis 65 nicht bezahlen mussten. Pensionierte, die marktübliche Mieten zahlen, haben es vielfach trotz Ergänzungsleistungen schwer.

Die AHV-Mindestrente liegt bei 1160 Franken für eine alleinstehende Person. Kann man davon leben?

Rodolphe Aeschlimann: Nein. Das ist unmöglich. Sogar mit Ergänzungsleistungen bleibt es sehr schwierig. Und wenn man ein Haus besitzt, hat man keinen Anspruch auf Ergänzungsleistungen.

Patrizia Mordini: Für die ärmsten 20 Prozent spielen die zweite und die dritte Säule sozusagen keine Rolle oder sie sind unerreichbar. Vor allem für die Frauen: 38 Prozent der Rentnerinnen leben nur von der AHV. Bei den Männern sind es 19 Prozent. Der Aufwand, um Ergänzungsleistungen zu erhalten, ist sehr gross. Die wirtschaftlichen Verhältnisse werden genauestens geprüft. Aus Scham verzichten einige darauf. Mit AHVplus werden Personen mit niedrigen Renten weniger auf Ergänzungsleistungen angewiesen sein, um es bis zum Monatsende zu schaffen.

Michael Moser: Die Ergänzungsleistungen dürfen nicht zur Norm werden, sondern sollen die Ausnahme bleiben. Heute sind aber bereits fast 180 000 Rentnerinnen und Rentner auf Ergänzungsleistungen angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Gemäss Bundesverfassung müssen die AHV-Renten «den Existenzbedarf decken». Davon sind wir auch mit einer Vollrente noch weit entfernt. Die Renten müssen steigen. Wie selbst der Bundesrat einräumt, sind diese seit 1980 gegenüber den Löhnen um rund 20 Prozent in Rückstand geraten. Die Erhöhung um 10 Prozent mit AHVplus stellt also eher ein Minimum dar.

Weshalb werden Männer und Frauen im Rentenstand nicht gleich behandelt?

Patrizia Mordini: Haushalt, Kinder, betagte Eltern: Die Frauen leisten weiterhin mehr unbezahlte Arbeit als die Männer und verdienen bei bezahlter Arbeit rund 20 Prozent weniger als diese. Teilzeitarbeit – die mehrheitlich Frauen betrifft –, Erwerbs­unterbrechungen und niedrige Löhne wirken sich bereits während des Berufslebens und später zwangsläufig auch auf die Höhe der Rente aus.

Das System ist noch immer auf das traditionelle Familienmodell mit dem Mann als Hauptverdiener ausgerichtet.

Ist denn die AHV eher frauentauglich als die zweite Säule?

Patrizia Mordini: Das ist sie! Dank verschiedenen Ausgleichsmechanismen wie den Erziehungs- und Betreuungsgutschriften sind die Durchschnittsrenten von Frauen und Männern in der AHV ungefähr gleich hoch. Die Rentenberechnung in der zweiten Säule, die auf den effektiven Beiträgen basiert, benachteiligt die Frauen: Ihre Renten sind durchschnittlich nur etwas mehr als halb so hoch wie jene der Männer.

Rodolphe Aeschlimann: An der zweiten Säule ist stossend, dass man mit einem Lohn von weniger als 21 500 Franken jährlich gar keine Beiträge einzahlen kann – ich denke hier an die Situation einer meiner Töchter, die zwei Kinder hat und weniger als 50 Prozent arbeitet.

Michael Moser: Mit den gros­sen Pensionskassen, die die Milliarden der zweiten Säule verwalten, haben wir Monster geschaffen, die am Tropf der Börse hängen. Das AHV-System ist viel gesünder und stabiler.

Michael, du bist 31 Jahre alt. Interessierst du dich überhaupt für das Thema Renten?

Michael Moser: Jetzt etwas mehr! Meine Freunde haben noch keine Meinung zu AHVplus, weil es für sie noch etwas theoretisch ist. Aber man muss sie davon überzeugen, dass die AHV ein funktionierendes System ist, das man nicht zerstören darf, sondern stärken sollte.

Die Renten der heutigen Jugendlichen könnten dahinschmelzen …

Michael Moser: Ja. Wenn man die nicht-linearen Werdegänge betrachtet, die Prekarisierung der Arbeit mit verschiedensten Praktika, befristeten Arbeitsverträgen, vorübergehender Arbeitslosigkeit: dann könnten die prekären Jungen von heute die prekären Rentner von morgen werden. Die Jungen der vier grossen Gewerkschaften, die Jungen Grünen und die Juso gründen derzeit ein Komitee und starten dazu Aktionen.

Welches ist euer schlagendes Hauptargument für AHVplus?

Rodolphe Aeschlimann : Mit all den Teuerungen ist es jetzt an der Zeit, auch die Renten anzuheben – und zwar über eine Erhöhung der Beiträge, die seit 40 Jahren unverändert geblieben sind. Dies ist ein echtes Bedürfnis in der Bevölkerung.

Patrizia Mordini: AHVplus hilft den Frauen wirklich. Für die Gleichstellung von Männern und Frauen müssen in der AHV Verbesserungen vorgenommen werden, um die Renten zu erhöhen.

Michael Moser: Für die Jungen ist die private Vorsorge viel zu teuer. Wir müssen in die erste Säule investieren, da die AHV für die niedrigen und mittleren Einkommen ein deutlich besseres Preis-Leistungs-Verhältnis bietet als die zweite Säule. Und natürlich stärkt AHVplus die AHV.

Infos unter:

www.ahvplus-initiative.ch

Broschüre bestellen bei syndicom:

Tel. 058 817 18 08

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