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Von der Empörung zum Handeln

Der bald 95-jährige Jurist Stéphane Hessel ist weltbekannt. Er war Mitglied der Résistance, wurde nach Buchenwald deportiert und hat die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mitredigiert. Kürzlich weilte der geistige Vater der Bewegung der «Empörten» zu Besuch im Schweizer Jura.

 


© Stéphanie Gerber


«Was mich am stärksten beeindruckt hat hier, in den Freibergen des Berner Jura, wo ich mich auf den nächsten öffentlichen Auftritt vorbereite? Die majestätische Kraft, aber auch die Ausgeglichenheit, welche die gewaltigen Tannen ausstrahlen.» Bei seiner ruhigen Stimme und den sorgfältig gewählten Worten hat man fast den Eindruck, er spreche von sich selber … Erst vor zwei Tagen sass er in Paris mit der burmesischen Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi am selben Tisch, bei einem Galadîner der französischen Republik zu ihren Ehren. Nachfolgend unser Gespräch.

syndicom: Stéphane Hessel, nachdem Sie mit dem unerwarteten Erfolg Ihres Büchleins «Empört euch!» zum Vorbild für die Bewegung der «Empörten» auf der ganzen Welt geworden sind, sagen Sie heute, dass es der Welt seit einiger Zeit etwas besser geht. Das ist eigentlich paradox …

Stéphane Hessel: Ich mache mir keine Illusionen über den nach wie vor besorgniserregenden Zustand unseres Planeten. Trotzdem darf man sich auch über positive Entwicklungen freuen. So kann sich Aung San Suu Kyi, die Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 1991, nach über 20 Jahren Arrest und Gefängnis endlich wieder völlig frei bewegen, und das beweist, dass Demokratie und Freiheit letztlich alle Hindernisse überwinden, sogar die Zeit. Und beim letzten EU-Gipfel wurde ein Kompromiss erzielt, der für die Euro-Krise möglicherweise das Ende des Tunnels anzeigt. Das ist doch schön für mich in meinen alten Tagen als überzeugter Europäer. Ich war schon immer für Europa, sowohl aus Überzeugung als auch wegen meiner Biografie.

Ihr berühmtes kleines Werk «Empört euch!» umfasst gerade einmal 30 Seiten. Nach seinem Erscheinen im Jahr 2010 wurde es zu einem unglaublichen Kassenschlager: mehrere Millionen verkaufte Exemplare in der ganzen Welt, zahlreiche Übersetzungen – und jetzt? Wie wandelt man jetzt die Empörung um in Aktionen? Oft wird Ihnen vorgeworfen, dass Sie keine konkreten Vorschläge machen.

Wie man von der Empörung zum Handeln kommt? Natürlich durch Engagement! Und zwar im Alltag. In Gruppen und Vereinen, in politischen Parteien und natürlich auch in den Gewerkschaften. Es reicht nicht, zu Hause vor dem Fernseher den Kopf zu schütteln und Nein zu sagen. Man muss auch etwas wagen. Dabei setze ich voraus, dass man auch präzise Ziele und Vorstellungen hat und dass man offen bleibt für den Dialog. Eine Aktion ohne präzise Ziele ist fast immer eine Aktion ohne Ergebnisse.

Nehmen wir ein Beispiel: den arabischen Frühling. Die Empörung hat das tunesische und das ägyptische Volk dazu geführt, seine Diktatoren zu stürzen. Und jetzt wird in Ägypten ein Islamist von der Muslimbruderschaft zum Präsidenten gewählt. Finden Sie das nicht empörend?

Nicht im Geringsten! Wir können doch nicht lauthals mehr Demokratie und damit mehr Rechte für die Bevölkerung fordern und dann empört tun, wenn sich die Mehrheit nicht nach unserem Gusto verhält! Und die Wahl in Ägypten verlief tatsächlich nicht nach meinem Geschmack. Trotzdem: Der neue ägyptische Präsident Mohamed Morsi hat unmittelbar nach seiner Wahl versprochen, dass er sämtliche internationalen Verträge einhalten wird, auch jene mit Israel. Darauf muss man ihn behaften. Daneben bin ich sicher, dass nichts und niemand den Freiheitsdrang aufhalten kann, der sich überall in der Welt ausbreitet.

Bleiben wir kurz bei dieser Weltregion, die Sie für die französische Diplomatie jahrelang beobachtet haben. Besteht Hoffnung für eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts?

Man wirft mir manchmal zu Unrecht meine Einwände gegen den Staat Israel vor. Ein Jude wie ich dürfe keine Kritik äussern gegenüber diesem Land. Dabei ist es doch gerade wegen meines Glaubens und weil ich in meiner Jugend in ein Todeslager deportiert wurde, dem ich nur knapp entronnen bin, dass ich es nicht ertrage, wie sich dieser Staat manchmal schändlich, ja sogar terroristisch verhält. Israel wurde doch gegründet zur Erinnerung und zu Ehren der Millionen von Märtyrern. Wenn die israelische Führung eines Tages einsieht, dass die arabischen Länder potenzielle Partner sind und nicht natürliche Feinde, dann ist ein Riesenschritt nach vorn getan in dieser Weltregion.

Sie haben als junger Jurist nach Ende des Zweiten Weltkrieges in den Arbeitsgruppen mitgewirkt, welche mit der Redaktion der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte betraut waren. Seither hat sich die Welt stark verändert, namentlich mit der Dekolonialisierung, dem Fall der Berliner Mauer und dem Aufbau Europas. Würde die Menschenrechtserklärung im Jahr 2012 gleich geschrieben wie 1948?


Ich bin überzeugt davon! Im Gegensatz zu gewissen Vorurteilen ging es nicht um eine Erklärung von weissen Männern ausschliesslich für den Westen, sondern wir waren Juristen aus der ganzen Welt und befassten uns mit dem gesamten Planeten. Neue geopolitische Verhältnisse ändern daran überhaupt nichts. Was wir dagegen unbedingt anfügen müssten, ist ein neues Kapitel über die Rechte der Erde. Hier kam es in den letzten Jahrzehnten zu den grössten Veränderungen: Der Mensch verdreckt und verschleudert die natürlichen Ressourcen in absolut verantwortungsloser Weise. Hier liegt heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, meine grösste Sorge.

Aber das ist auch ein weiteres Paradox, wo nicht ein Widerspruch in Ihren Äusserungen: Sie sind für einen Ausstieg aus der Nukleartechnologie, militärisch ebenso wie zivil, haben aber gleichzeitig François Hollande unterstützt bei den französischen Präsidentschaftswahlen, und Hollande befürwortet sowohl zivile als auch militärische Nutzung der Atomkraft …

Niemand ist perfekt. Was ich bedaure. Nicht einmal der Nachfolger von Nicolas Sarkozy …

Zurück zum Hauptthema: Wie geht man von der Empörung über zum Handeln? Haben Sie ein paar konkrete Tipps?

Man muss unbedingt all den Riesenapparaten wie den «G8», den «G20» und bald wohl auch noch den «G87» ihre Pseudolegitimität wegnehmen. Diese Leute haben kein Jota einer demokratischen oder politischen Legitimität, massen sich aber an, die Polizei des Planeten zu spielen.

Die alleroberste Priorität aber liegt im Kampf gegen die Tentakeln des Finanzungeheuers, das dabei ist, uns alle zu ersticken. Hier muss endlich seriös und unerbittlich eingeschritten werden. Ich habe das Gefühl, wir werden uns langsam bewusst, wie dringend das ist.

Zum Schluss noch ein Wort zur Schweiz, Stéphane Hessel. Sie kennen unser Land gut, da Sie hier auch oft im Rahmen ihrer diplomatischen Aktivitäten gearbeitet haben. Sind Sie als überzeugter Europäer nicht enttäuscht von der Schweiz, die sich offenbar mehr und mehr vom europäischen Aufbauprozess zurückzieht?


Ich teile diese Einschätzung nicht ganz. Im Kern ist die Schweiz sehr europäisch. Aber sie gesteht sich dies selber nicht ein. Das hat sicher damit zu tun, dass in Ihrem Land verschiedene Generationen so stark mit ihrer Geschichte und dem kulturellen Erbe verbunden sind, dass sie befürchten, mit einem Beitritt zur EU gehe dieser Teil ihrer Identität verloren. Aber ich denke, sie irren sich. Jedenfalls stehen Ihnen als Schweizer und Schweizerinnen die Türen zu Europa weit offen. Wir könnten von euch sehr viel lernen, besonders, wie Demokratie funktioniert …

 

Mohamed Hamdaoui

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