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Vorsicht, der Chef überwacht alles!

Digitalisierung macht vieles möglich. Auch eine Überwachung am Arbeitsplatz in nie da gewesener Perfektion. Und der Datenschutz setzt nur wenige Grenzen.

 

Martin Neff ist Chefökonom der Raiff­eisen-Bank. Der überzeugte Marktwirtschaftler betrachtet materielle Anreize für die Beschäftigten als das beste Schmiermittel im System. Kürzlich veröffentlichte er einen Kommentar, in dem er die weltweit rasant wachsende Ungleichheit beklagte. Seine empörte Schlussfolgerung: Es werde nicht mehr nach Leistung entlohnt. Das System materieller Anreize, das für Wachstum, aber auch für Harmonie in den Büros und Betrieben sorgen soll, «versagt klar».

Kontrolle statt Belohnung

Wo Freiwilligkeit und Einverständnis schwinden, nehmen Misstrauen und Kon­trolle zu. Das bestätigt der Markt selbst: In allen Industriestaaten boomt die Überwachungsbranche. Und Rolf Schatzmann, der ehemalige Chef des Bundessicherheitsdienstes, sagt gegenüber der NZZ: «Die Mehrheit der grossen Unternehmen überwacht ihre Mitarbeiter heute praktisch flächendeckend, und zwar mehr, als das den Angestellten bewusst ist.»

Die Unternehmen brauchen dazu nicht einmal einen besonderen Anlass, wie ein Vorfall aus der analogen Welt zeigt: Am 7. Mai 2014 gefiel es den Chefs der SBB im Industriewerk Officine in Bellinzona, zum Feierabend am Fabriktor bei der gesamten Belegschaft die Taschen und Jacken zu kontrollieren. Das habe «präventiven Charakter», hiess es danach, die Beschäftigten sollten dafür «sensibilisiert» werden, dass sie im Werk nicht stehlen dürfen. Deutsch und deutlich: sie sollten eingeschüchtert werden.

Die Gewerkschaften legten Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht ein, das diesen Sommer entschied: Die Durchsuchung war illegal. Taschenkontrollen seien nur bei begründetem Verdacht erlaubt. Zudem gebe es wirkungsvollere Massnahmen, um Diebstahl zu verhindern, Plakate etwa, die im Betrieb aufgehängt werden.

Dieser Vorschlag ist im besten Fall verharmlosend nostalgisch. Denn im digitalen Zeitalter können die Beschäftigten in Büro und Betrieb, auf der Fahrt zu Kunden oder auf Baustellen lückenlos überwacht werden (siehe «Die Werkzeuge der Kontrolleure»).

«People Analytics»

Um sich aus den Datenmengen einen Reim auf die Leute machen zu können, hat sich eine ganze Branche aufgestellt, die sich «People Analytics» nennt. Sie betreibt die Untersuchung und Beurteilung des Faktors Mensch. Wie sehr diese Branche boomt, demonstriert Google eindrücklich: Zum Stichwort «Spio­nageprogramme» spuckt die Suchmaschine in Nullkommanichts 28 000 Einträge aus.

Mit solchen Programmen werden die Computer der Beschäftigten verwanzt und die Vorgesetzten können abrufen, wie ihre Leute die Arbeitszeit verbracht haben, wie lange sie privat im Internet waren, welche Mails sie bekommen und geschrieben haben, wie lange sie sich anderweitig beschäftigt haben. Um die Mails nicht alle selber lesen zu müssen, lässt man das Programm nach Schlüsselbegriffen suchen («Selektoren»). Wenn etwa «Chef» und «Idiot» dicht aufeinander folgen, erhält der Kontrolleur das Zeichen, sich den Schreibenden einmal vorzuknöpfen.

In den USA kontrollieren rund drei Viertel der Firmen die Internetnutzung ihrer Beschäftigten. E-Mails werden von 55 Prozent mitgelesen und 36 Prozent schreiben Tastaturanschlagszahlen pro Stunde vor. Den ganzen Tag an ihrem Arbeitsplatz gefilmt werden die Beschäftigten in 6 Prozent der Firmen. Zahlen aus der Schweiz sind nicht bekannt. Aber auch bei uns sind die notwendigen Programme einfach zu beschaffen, billig und effektiv.

Auf dem neusten Stand der Spionagetechnik dürften die Betreiber von Umfrageinstituten und Callcentern oder die Verantwortlichen bei der Kundenberatung sein. Für sie gibt es das «Qualitäts- und Performance-Messungssystem (QPMS)». Es registriert nicht nur die gewählten Nummern, die getätigten Gespräche und deren Länge. Es gibt auch vor, wie lange etwa ein Schadensfall bearbeitet werden darf: 6 Minuten 42 Sekunden sollen es bei einer Schweizer Versicherung sein. Dort wird dem «Beobachter» zufolge zudem die «aktive Arbeitszeit» gemessen. Und das Programm kontrolliert, ob der Angestellte spätestens nach dreimaligem Läuten an den Apparat geht, ob er vor Arbeitsbeginn die News im Intranet gelesen hat und um 7 Uhr per E-Mail erreichbar ist.

Bei so deutlich manifestiertem Misstrauen der Chefs ist naheliegend, dass sie längst auch die technischen Mittel in der Hand haben, um ihre Leute ausserhalb der Büros zu überwachen. Postboten müssen Scanner tragen, die ihnen die Wegzeiten vorgeben, Spediteure sind über GPS ständig zu orten. Unter der totalen Kontrolle eines Minicomputers stehen Lageristinnen. Das Gerät zeigt ihnen den Weg zur gesuchten Ware und gibt ihnen die Zeit zur Erledigung eines Auftrags vor. Es alarmiert aber auch Vorgesetzte, wenn sich einer der Arbeiter mal eine Verschnaufpause gönnt. Und auf einer Grossbaustelle im kalifornischen Sacramento werden Drohnen eingesetzt, die regelmässig Bilder zum Fortgang der Arbeiten liefern und damit den Vorwand, um vermeintlich schlampige oder unfähige Arbeiter auszusondern. Manchmal tun die Programme auch zu viel auf der nimmermüden Suche nach Mustern, die ungenügendes, abweichendes oder kriminelles Verhalten eines Beschäftigten verraten sollen. Der deutsche Internetlobbyist Sascha Lobo gibt ein Beispiel: Was soll ein Personalleiter wohl mit der Information anfangen, die sein Überwachungsprogramm errechnet hat, derzufolge rothaarige Mitarbeiterinnen ein um neun Prozent höheres Unfallrisiko als ihre Kolleginnen haben?

Nur Quantität lässt sich messen

Schliesslich sind die Programme nicht, zumindest noch nicht, in der Lage, ungewöhnliche Lösungen, die Beschäftigte gefunden haben, zu begreifen, also Kreativität zu messen. Das ist beispielsweise das Problem derjenigen, die in den Medien den Grossen Bruder spielen möchten. Stephanie Vonarburg, die Zentralsekretärin der syndicom-Branche Presse und elektronische Medien, sagt, punkto Überwachung seien die Verlage nirgends, «obgleich alles möglich wäre». Es wäre ein Leichtes, Schnell- und Langsamschreiber zu identifizieren. Und sicher wissen die Verleger auch, wie lange Redaktor X an seinem Schreibtisch sitzt und wie viel er in dieser Zeit produziert. Doch noch so grosse Datenberge sagen nichts Entscheidendes zur Qualität und Kreativität von X aus. Also zu dem, was die Taschen der Verleger füllen kann.

Oltner Psychologie

Um solche Beschränkungen der Messbarkeit zu überwinden, arbeitet die «People Analytics» auch daran, genaue Verhaltens­profile des Unsicherheitsfaktors «Mitarbeiter» zu erstellen. In dieser Hinsicht ein besonders ambitioniertes Unternehmen ist die Oltner «Scioli Security Human Capital». Gründer Ennio Scioli, ein ehemaliger hoher Kader im Verteidigungsdepartement, ist offenbar ein Freund von Science-Fiction-Geschichten, zum Beispiel dem «Minority Report» des genial-verrückten Autors ­Philip K. Dick. So wie dort Kriminelle gejagt werden, bevor sie zur Tat schreiten, behauptet Scioli, Beschäftigte oder Bewerber ausfindig machen zu können, die gegen die Interessen der Firma verstossen, noch bevor Computerprogramme irgendetwas registrieren können. Dazu hat er zusammen mit seiner Gattin, einer früheren Verkaufsleiterin in einem Unterwäschegeschäft, das Bewertungs-Tool «secureness» entwickelt. In dessen Mittelpunkt steht ein Fragebogen zu Persönlichkeit und Sicherheitsbewusstsein. Beispiel: Wer bei der Frage, wie sehr er sich für seine Familie einsetze, antwortet, dass er für sie «alles tue», ist bereits schwer verdächtig und für Verrat anfällig. Die ­Sciolis meinen, ihr Fragebogen sei so zusammengestellt und ihre Oltner Psychologie so tiefschürfend, dass sie einen gefährlichen Mitarbeiter mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent erkennen könnten.

«Bedauerlicher Eindruck»

Michael Beckmann, Wirtschaftswissenschaftler der Universität Basel mit den Schwerpunkten Personal- und Organisationsökonomie, ist davon überzeugt, dass die allgegenwärtige Überwachung die Leistung gerade von Hochqualifizierten beeinträchtige. Es geht also nicht nur um Messung – die Beobachtung verändert das Verhalten. Dem widersprach die Schweizer Versicherung gegenüber dem «Beobachter»: Die neuen Programme machten lediglich Qualität zu einer «messbaren Grösse». Und: Der Eindruck einer verstärkten Kontrolle sei «bedauerlich».

Löcher im Datenschutz

Die Spitzelbranche setzt darauf, dass die Angestellten sich der ständigen Beobachtung freiwillig unterwerfen. Schliesslich liessen sie sich auch privat aus eigenem Antrieb mit Fitnessarmbändern oder Smart Watches laufend überwachen. Die regelmässige Vermessung des eigenen Ichs («Quantified Self») soll Menschen zu einem gesünderen, bewussteren, besseren Leben verhelfen. People Analytics sei nur die Übertragung dieses löblichen Trends in die Arbeitswelt.

Vor allem aber können die Überwacher bequem durch ein riesiges Loch im Datenschutzgesetz schlüpfen. Die Verordnung 3, Artikel 26 zum Arbeitsgesetz schreibt zwar vor, dass Überwachungs- und Kontrollsysteme nicht zur Kontrolle des Verhaltens der Arbeitnehmer am Arbeitplatz eingesetzt werden dürfen. Doch dann folgen die Ausnahmen: Die Überwachung ist erlaubt, wenn zulässige Gründe vorliegen. Und zulässige Gründe sind die Unfallverhütung, der Schutz von Personen und Sachen, aber auch die Überprüfung von Qualität und Quantität der Arbeit. Wie in der Praxis diese legale Leistungskontrolle von illegaler Verhaltenskontrolle zu unterscheiden ist, bleibt das Geheimnis des Gesetzgebers. Er glaubt jedenfalls, den Arbeitnehmenden genug Datenschutz geboten zu haben.

Schon vor Jahren schmetterte der Bundesrat ein Postulat des damaligen Luzerner SP-Nationalrats Hans Widmer ab, der eine Meldepflicht für Überwachungssoftware gefordert hatte. Die Begründung des bundesrätlichen Neins: Bereits das Arbeitsgesetz verbiete deren Einsatz ...

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