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Was uns die Medienkrise über künftige Arbeit lehrt

Fussball-EM, Tennis-Turniere, Radrennen, Olympische Spiele: 2016 herrscht Hochkonjunktur für den Sportjournalismus. Ein Heer von Reportern berichtet aus den Stadien. Doch die Push-Nachricht auf dem Smartphone könnte ebenso gut von einem Roboter geschrieben sein. Programme, die Wettkampf­resultate in Kurzmeldungen umwandeln, existieren bereits – und werden wohl bald vermehrt eingesetzt. In der Medienbranche zeigen sich exemplarisch Entwicklungen, die für viele Teile der Gesellschaft relevant sind. 

 

Die Beratungsfirma ­Deloitte glaubt, dass beinahe die Hälfte aller Stellen in der Schweiz im Prinzip von Maschinen übernommen werden könnten. Die Chance, dass der Job der Sportjournalistin innerhalb der nächsten 20 Jahre automatisiert wird, liegt gar bei 91%, wie die Universität Oxford 2013 in einer Studie berechnete.

Algorithmen verändern die Art und Weise, wie Information und, generell, wie Arbeit organisiert wird. Es geht um die Frage, wo Wertschöpfung geschieht – und wer davon profitiert.

Das Prinzip der Plattformwirtschaft

Mit der Digitalisierung wurde die Idee des Marktplatzes in den virtuellen Raum verschoben und die Plattform zum strukturierenden Prinzip. Bei den Medienhäusern haben (Gratis-)Angebote im Internet bereits zu tiefgreifenden Umwälzungen geführt. Die Erlöse aus dem Anzeigen- und Abonnementsverkauf sind eingebrochen, Investitionen fliessen in Digitalisierungs- und Konvergenzprojekte und in die Übernahme von Marktplätzen wie Ricardo, Homegate oder Scout24. Der Fokus hat sich vom Inhalt auf die Frage verlegt, auf welchen Kanälen am meisten Aufmerksamkeit – und Gewinn – erzeugt werden kann.

Facebook treibt die Entwicklung mit seinen «Instant Articles» voran: Medienhäuser publizieren ausgewählte Beiträge direkt im sozialen Netzwerk und erzielen so eine grössere Reichweite. Sie schneiden sich etwas vom Anzeigenvolumen ab, während Facebook von der längeren Verweildauer seiner Nutzer profitiert. Die Kontrolle darüber, wem wann welche Inhalte präsentiert werden, liegt bei Zuckerberg und seinen IT-Cracks: Es sind ihre Algorithmen, die über die Relevanz von Themen entscheiden.

Vermittlungsdienste wie Uber (Transport), Airbnb (Unterkünfte) oder Clickworker (Mini-Aufträge) funktionieren nach demselben Prinzip. Sie werden von verhältnismässig wenigen Personen zentral programmiert und von vielen externen Zulieferern gespeist. Während die Technologiekonzerne von tiefen Transaktionskosten im ­Online-Geschäft profitieren, bestreiten die Anbieter der Dienstleistungen damit ihre Existenz – oder versuchen zumindest ein Zusatz­einkommen zu generieren.

«Gig Economy»: Nicht die grosse Selbstverwirklichung

In den USA hat sich dafür der Begriff «Gig Economy» etabliert. Die Zahl der Erwerbstätigen ohne feste Anstellung stieg im Land zwischen 2005 und 2015 um 67%, wie die Arbeits­ökonomen Lawrence Katz und Alan Krueger analysierten. 15% aller Erwerbstätigen sind mittlerweile in alternativen Modellen beschäftigt, hangeln sich also als Temporär-Angestellte oder Freischaffende von Auftrag zu Auftrag. Mit Selbstverwirklichung und freier Arbeitseinteilung, wie es der Begriff «Gig» in Anlehnung an das Musikerdasein suggeriert, hat dies wenig zu tun.

Unvorteilhafte Rahmenbedingungen führen zum Zwang der ständigen Verfügbarkeit, die grosse Konkurrenz von Job-Anwärtern zu Dumpinglöhnen. Um die berufliche Vorsorge und Versicherungen haben sich die Ausführenden selbst zu kümmern. Unternehmen sparen mit der Auslagerung Geld und reagieren flexibler auf Marktschwankungen – die digitalen Plattformen erleichtern diesen Prozess.

Medienleute sind eine unerwünschte Risikogruppe

Freischaffenden JournalistInnen mag die Situation irgendwie bekannt vorkommen. Die meisten Medienhäuser haben ihre Redaktionen seit der Finanzkrise dezimiert, Festanstellungen sind rar, die einzigen Arbeitsplätze, die geschaffen werden, sind Praktika, so der Eindruck auf Stellenportalen. Die Honorare sind tief und die soziale Sicherheit steht auf wackligen Beinen: Freie Mitarbeiter bezahlen die Arbeitgeberbeiträge häufig selbst, doch Arbeitslosenunterstützung kann keine beansprucht werden, wenn Rahmenarbeitsverträge auf Abruf bestehen. Beim Krankentaggeld gehören Journalisten zur unerwünschten Risikogruppe, wie das Medienmagazin «Edito» publik machte. (Anmerkung d. Red.: Dank einer Rahmenvereinbarung von syndicom können sich freischaffende Mitglieder der Krankentaggeldversicherung bei Fairline anschlies­sen.)

Prekäre alternative Arbeitsverhältnisse

2013 organisierte syndicom einen branchenübergreifenden Kongress zum Thema: «Führt Selbständigkeit ins Prekariat?» Die Gewerkschaft geht davon aus, dass alternative Formen der Erwerbstätigkeit in Zukunft zunehmen. Europaweit besitzen nur noch rund 40% der Arbeitnehmenden einen unbefristeten Arbeitsvertrag, seit den Nullerjahren wird eine Verarmung der Mittelschicht vorhersehbar. «Die Schweiz steht im Ländervergleich aufgrund des hohen Bildungsniveaus besser da», sagt Mediensprecherin Nina Scheu. «Umso mehr müsste jetzt in (Weiter-)Bildung und die Sozialwerke investiert werden. Denn die Schweiz ist bekanntlich keine Insel.»

Eine Studie von Ecoplan aus dem Jahr 2013 zeigt, dass der Zuwachs an Praktikumsstellen hierzulande für atypisch-prekäre Arbeitsverhältnisse sorgt: Zwischen 2004 und 2008 waren zwei Drittel (13 000) der neu geschaffenen, als «unerwünscht unsicher» bezeichneten Stellen Praktikumsplätze. Vor allem für Personen zwischen 25 und 40 Jahren mit Hochschulabschluss ist die Wahrscheinlichkeit einer befristeten Anstellung zu einem Tieflohn gestiegen.

Unsicherheit herrscht besonders in der Kreativwirtschaft. In der Schweiz wächst die Zahl dieser Betriebe stärker als die der Gesamtwirtschaft. 96 Prozent der im Kreativwirtschaftsbericht 2016 erfassten Unternehmen sind Mikro-Betriebe, davon bestehen rund drei Viertel aus ein bis zwei Personen. Einkommensschwankungen und eine unsichere berufliche Vorsorge sind häufig.

Kreativwirtschaft: Freiheit ohne Rechte?

«Wir nennen es Arbeit», triumphierten die Vertreter der kreativen Klasse noch vor zehn Jahren, als die Publizisten Holm Friebe und Sascha Lobo das Zeitalter der digitalen Bohème ausriefen. Ihre Leitfigur war der urbane Hipster, der mit dem Laptop die Cafés und Coworking-Spaces der Grossstadt bevölkert und seine guten Ideen mithilfe der digitalen Kommunikationstechnologie auf lukrative Weise monetarisiert. «Den Kapitalismus austricksen, smart und cool sein, dem Nine-to-five-Job, der Auslieferung an die ­Corporate World aus dem Wege gehen, und trotzdem mitspielen, ihnen das Geld aus der Nase ziehen als individuelle Strategie», so fasste Timo Daum in der «Berliner Gazette» die Haltung zusammen, mit der Friebe & Co. «der verstaubten Angestelltenkultur den Kampf ansagten».

Doch mittlerweile ist Sascha Lobo in seiner «Spiegel»-Kolumne zu einer kritischen Analyse des «Plattform-Kapitalismus» übergegangen: «Das Netz ist perfekt dafür geeignet, Eintrittsbarrieren zu senken. Es löst die Grenze zwischen professionellem Angebot und amateurhaftem Gelegenheitsangebot auf. Plattform-Kapitalismus verändert den Arbeitsbegriff, die Grauzone zwischen privater Hilfe und Schwarzarbeit, das Verständnis und die Regelung von Monopolen.»

Was jetzt gebraucht wird: Regulierung und Aufwertung

In Lobos Kommentar klingt die Forderung nach Regulierung an, nach einer politischen Diskussion, wie der Wert von Arbeit und deren Qualität definiert werden soll. Nina Scheu von syndicom bläst ins selbe Horn, wenn sie beklagt: «Arbeitsrechtliche Fragen werden nicht mehr öffentlich diskutiert und erhalten auch in den Medien immer weniger Platz.» 2013 veröffentlichte die Gewerkschaft eine «Charta der Schweizer Selbständig­erwerbenden» – die Forderungen verhallten mehr oder weniger ungehört.

«Freelancer bieten Flexibilität, hohe Motivation sowie Innovationskraft und erlauben es den Unternehmen jederzeit, spezifisches Know-how herbeizuholen», hielt syndicom fest. «Erforderlich ist daher ein Paradigmenwechsel: Freelancing muss als volkswirtschaftlich gewünschte, gleichwertige und nicht wie heute allzu häufig unerwünschte und benachteiligte Berufsausübung betrachtet werden.» Dazu beitragen würde eine Gleichbehandlung mit Angestellten: bezüglich Zugang zu Informationen, Sozialversicherungsleistungen, bei der Vergütung effektiver Arbeitszeit und Beiträgen an die Weiterbildung.

Der Co-Autor des Kreativwirtschaftsberichts 2016, Christoph Weckerle, sagt, dass es in Zukunft auch vermehrt zu Überschneidungen zwischen den Beschäftigungsformen kommen wird: «Wertschöpfung findet im Zusammenspiel unterschiedlicher Verwertungsstrukturen statt. Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Akteure innerhalb des Systems wechselnde Positionen einnehmen.» Will heissen: Wenn die Journalistin ihren Olympia-Bericht fertig hat, widmet sie sich als Nächstes vielleicht ihrem Buchprojekt. Parallel betreut sie als ­Texterin eine Werbekampagne und begleitet dann ein wissenschaftliches Projekt, für das sie Interviews durchführt.

Computer und Menschen

Dabei arbeitet sie nicht nur mit Menschen, sondern auch mit Computern zusammen. Der Autor Frédéric Martel schlägt dafür das Konzept der «Smart Curation» vor: Es gilt, die Fähigkeit der künstlichen Intelligenz, grosse Datenmengen aufzubereiten, zu filtern und darzustellen, mit dem menschlichen Urteilsvermögen und seiner emotionalen Intelligenz zu verbinden. Möglicherweise wird eine Software dereinst verschiedenste Dialekte und Sprachen adäquat zu Papier bringen. Doch nur einem Menschen wird es gelingen, das Drama der verlorenen Hunderts­tel­sekunde oder den Freudentaumel nach bitterem Kampf wirklich packend zu erzählen.

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